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Hans-Georg Kaiser

Kinderzeit


Versunkene Welten,
meine Paradieszeit auf dem Dorf;
ich war frei wie ein Vogel in der Luft,
als der erste Sputnik hochging.

Ich habe diese Zeit genossen,
sogar mit Freundin;
sie hieß Cornelia.
Wir waren unzertrennlich
wie Bonny & Clyde.

Verknöcherte Erwachsene
reizten uns, wenn überhaupt,
nur zum Lachen.
Sie waren uns schnuppe...
und manchmal sogar
verdächtig lieb zu uns.
Die beste von allen
war meine Großmutter.

Ich hatte damals
als blonder Engel-Lausbube
einen Sonderstatus im Dorf,
durfte an jedem Bauerntisch
zu Mittag speisen,
so wie ich es wollte.

Ich habe mir damals das Essen
wählerisch selbst ausgesucht,
nach dem Motto: beim wem
esse ich heute am besten?

Das war wahrer Kommunismus,
ein herrliches Vagabundenleben.

Ich war ein kleiner Tom Sawyer.
Heute wäre das alles unvorstellbar.
Heute haben alle Kinder, wegen
der berechtigten Angst der Eltern,
eine Vorhängeschloss vor dem Bauch.

Die Stadt, jede Stadt,
war damals weit weg von mir,
nur die bigotte Tante Lucie
hat mich manchmal geärgert.

Sie passte mit ihrer verkniffenen Art
nicht ins Dorf, sie war eine Kinderhasserin,
wenn es nicht die eigenen waren,
und wohnte über der Dorfkneipe,
also mitten im Herzen Satans!

Wie muss sie gelitten haben,
als die Leute unten in der Kneipe
am Schwarz-Weiß-Fernseher
bei der Fußball-WM in England
so laut brüllten, daß das ganze Haus wackelte.

Mit so einer Kinder-Paradieszeit im Herzen
kann man leben. Die trägt ein Leben lang.

Von Stalin, der noch wie ein Bleigewicht
auf dieser Zeit lag, hatte ich damals
keine Ahnung.