Wenn ich in diesem meinem eigenen Blog mal so herunterscrolle, dann stelle ich fest, daß die Themen sehr spontan sind. Ich habe keine ausgemachte Zielgruppe und keinen definierten Stil. Ich schreibe das, was mir gerade in den Sinn kommt. Jetzt gerade im Sinn habe ich z.B. den Artikel "Die Piratenpartei: Von Gender und Multitude.", den ich heute nacht gelesen habe, als ich mal wieder wach im Bett lag.

Den Artikel selbst finde ich blöd, ebenso die nachfolgenden Kommentare des Autors. Ganz toll aber finde ich, daß er ihn geschrieben hat! Ich liebe es, in Blogs zu lesen, in denen Menschen ungefiltert und unredigiert ihre Gedanken ausbreiten. Die Piratenpartei ist eine Projektionsfläche für unglaublich spannende Visionen, und ich erinnere mich da u.a. an ein längeres Kneipengespräch mit einem anderen Bremer Piraten, das mich im Nachgang sogar dazu brachte, ein Buch von Ken Wilber zu kaufen ("Eine kurze Geschichte des Kosmos"). Ob ich jemals dazu kommen werde, es auch zu lesen, ist eine andere Frage. ;-)

Jedenfalls erlauben es Blogs, das Prinzip Kneipengespräch auf die ganze Welt auszudehnen und sich auch mit den Gedanken persönlich nicht bekannter Menschen zu beschäftigen. Darüber hinaus aber erlauben sie es auch, an den Artikeln zu diskutieren. Und genau macht das Prinzip Blog besonders wertvoll. Konkret möchte ich (kurz, denn ich muß heute wegen eines frühen Meetings eher zur Arbeit als sonst) einige Kommentare an dem eben erwähnten "blöden" Artikel zitieren, da sie das Thema meines letzten Blogeintrags aufgreifen. Ich hatte darin -- ebenfalls anläßlich eines Blogs -- neben der Ausdehnung des Parteiprogramms auch die Genderdebatte der Piratenpartei thematisiert. Ich hatte geschrieben "Die Partei wird durch die Debatte nicht gebremst. Sie kämpft mit der Debatte um ihr Überleben! Ohne diese würde sie untergehen."

Dazu möchte ich nämlich noch folgendes ergänzen: Daß die Piratenpartei ein Magnet für maskulinistisches Getrolle ist, halte ich nicht für ein Problem, da dieses allenfalls die Foren verseucht, die zwar von vielen Menschen als das Gesicht der Piratenpartei wahrgenommen werden, in Wirklichkeit aber nur der Kinderhort sind, der es den Erwachsenen ermöglicht, anderswo ungestört zu debattieren. Dies findet sich auch in einem der Kommentare wieder, die ich zitieren möchte:

"Ich weiß noch gar nicht, ob es tatsächlich soviele Maskulisten in der Piratenpartei gibt. Jedenfalls haben diese, im Gegensatz zu den Queers und Gleichstellungsfeministen, keine einzige ihrer überbordenden Forderungen als Programmantrag eingebracht."

Womit ich hingegen ein großes Problem habe, ist die stark ausgeprägte strukturelle Gewalt gegen Frauen in der Partei. Diese findet man in anderen Parteien in Form der zwangsweisen (und noch dazu fremdbestimmten!) Zuordnung zu einem Geschlecht mit daraus abgeleiteten Rechten von Amtsübernahme bis Rederecht -- also in einer Form, die in der Piratenpartei undenkbar ist. In dieser wird diese Diskriminierung jedoch durch eine andere ersetzt, nämlich durch den Rückfall in prä-feministische Zeiten: Männer sind das Normale. Frauen das Andere.

"Wie »postgender« man dann nämlich ist zeigte sich als Lena vorne auf der Bühne stand. Da spielte Lenas Geschlecht auf einmal eine riesige Rolle. Ob sie »als Frau« oder »mit Studium« dazu in der Lage wäre diesen Posten auszufüllen. Beim nächsten Kongress werd ich wohl mal anreisen und Seipenbusch und seine Freunde fragen ob sie denn »als Mann« und »mit Job und Kindern« in der Lage wären diesen Posten auszufüllen."

Sexismus erkennt man, indem man die Geschlechterrollen in Gedanken umkehrt und prüft, ob der Satz dann immer noch denkbar ist. Wohlbemerkt Lena Simon ist Politikstudentin, Seipenbusch Physiker mit Familie. Aber sie muß sich "als Frau" rechtfertigen!

Ok, Seipenbusch hat echt Ahnung von schwierigen Themen wie z.B. Urheberrecht und ist sehr podiumserfahren (ich habe ihn persönlich erlebt und bin nach einer solchen Veranstaltung auch noch mit ihm in einer Bremer Kneipe gewesen, um ihn näher kennenzulernen -- und ich war sehr beeindruckt). Was ihn als Vorsitzenden der Piratenpartei qualifiziert, erschließt sich mir dennoch nicht (er ist u.a. strikt gegen ein BGE, und er ignoriert die Genderdebatte komplett). Als Frau hätte er keine Chance gehabt, gewählt zu werden. Er wurde gewählt, weil er die geringste Angriffsfläche bot. Er gefährdete die mentale Homogenität der Partei am wenigsten. Eine Frau hingegen ist automatisch Angriffsfläche. Hier paßt ein weiterer zitierter Kommentar aus jenem oben erwähnten Blog:

"'Nicht Männer sind die Gegner der Frauen und umgekehrt, sondern Umstände und Mechanismen, die Menschen in ein System der strukturellen Gewalt zwängen.' Richtig! Aber wer die Inquisition von Lena live vor Ort erlebt hat, hat genau das erlebt: Ein System der strukturellen Gewalt! Per Twitter und am Mikrofon erhob sich die kollektive homogene Masse, die in Lena ein störendes Individuum sah, deren Existenz in der Partei ein Ende gemacht werden sollte, weil es die Homogenität der Partei gefährdete."

Nochmal zurück zur strukturellen Gewalt gegen Frauen in der Piratenpartei. Seipenbusch sprach zwar nie von Postfeminismus (er wurde nur von der taz als "wir sind post-gender" falsch zitiert), aber die Partei sieht sich dennoch so. Sie ist es nicht nur eben nicht! Und daraus ergibt sich die strukturelle Gewalt:

"Und zum Thema "Dekonstruktion". Auch wenn du Geschlecht generell ablehnst, akzeptierst du damit diese Kategorien. Negieren ist eine Form der Aktzeptanz. Frei ist das alles nicht. Und Pirat_innen sind nicht so. Sie sind ultraweit entfernt von jeglicher Form von Dekonstruktion und Postfeminismus. Stattdessen sind sie von Wut und Hass erfüllt."

"Dekonstruktion funktioniert nur, wenn man Machtverhältnisse ernst nimmt und daran ansetzt. Darum geht es bei Derrida, darum geht es bei Butler. Dekonstruktion hat auch etwas damit zu tun, sich mit Privilegien auseinanderzusetzen. Genau das passiert in der Piratenpartei nicht, wenn sie sich postgender gibt oder gar glaubt, Geschlechterpolitik nicht verhandeln zu wollen sei irgendwie schon queer. "

"Solange ihr nichts tut, als zu behaupten, postfeministisch zu sein (statt so zu handeln), verschließt ihr die Augen vor der tatsächlichen Situation einer nicht postfeministischen Gesellschaft (und einer in weiten Teilen auch nicht postfeministischen Partei)."

"Man kann nicht behaupten Gender ist kein Thema für uns und dann über Postfeminismus reden."

Ich fühle mich durch diese Kommentare in meinem bereits mehrfach (auch anderswo) geäußerten Anliegen gestärkt, daß die Piratenpartei ein ernstes Gender-Problem hat und dieses durch offenes Debattieren überwinden muß.

"Dass Frauen sich oft nicht wiederfinden bei den Piraten, liegt auch daran, dass sie unbewusst spüren, nicht zu dieser Gruppe zu gehören, wenn die sie schon per Benennung ausschließt."

"Aber die Frauensache wird von sehr vielen 'Normalos' aus dem Mainstream viel kritischer wahrgenommen, als den Piraten bewusst ist."

"Wir wissen alle, dass die Piraten nicht frauenfeindlich sind. Da brauchen wir uns nicht drüber zu verständigen. Aber diese Art von Postgender ist das falsche Signal in einen Mainstream hinein, der darauf nicht vorbereitet ist."

All diese Kommentare stammen wie gesagt aus den Reaktionen zu einem einzigen Blogeintrag. Und um nicht den Eindruck zu erwecken, ich würde die Geschlechterspaltung der anderen Parteien befürworten, hier noch zwei weitere:

"Eine Gruppe in eine Homogenität zu zwängen tut jedem Subjekt in ihr Gewalt an und positioniert sie gleichzeitig als Gegner zu anderen Gruppen."

"Spaltung ist ein Kontrollinstrument."

Apropos Kontrollinstrument. Der Vorsitzende des Kreisverbands Bremerhaven der Piratenpartei sagte auf der Gründungsversammlung: "Ich überlege, ein Parteiausschlussverfahren gegen jeden anzustreben, der das Wort Piratin benutzt."

Ich kann dazu nur sagen, daß ich das Subsidiaritätsprinzip gutheiße. (Nichts wird auf einer Ebene entschieden, das nicht auch eine Ebene tiefer entschieden werden kann.) Wenn da also irgendwo Leute in die Partei eintreten, sich einen Vorsitzenden, einen Schatzmeister und eine eigene Satzung geben und dann Kreisverband nennen, dann ist das gut und richtig so. Egal, wofür sie stehen. Aber wäre ich selber dadurch Mitglied des Kreisverbands Bremerhaven geworden (bin ich nicht, weil in Bremen gemeldet), dann wäre ich noch an dem Abend aus der Piratenpartei ausgetreten. Das ist nicht meine Partei.

Ich hoffe, noch in ganz vielen Blogs mehr über dieses Thema zu lesen. Jetzt aber muß ich mich sputen...