Utamaros Tod

„He, ein Neuer!“

Eisig und schrill klang der vor ihm gezogene Riegel, so dass seine Seele erlöschen wollte und sein Körper bis ins Mark erkaltete.

„Na, dann!“

Seine Hüfte wurde heftig von hinten durch die Füße des Provos getreten, der ihn bis vor dieses Gefängnistürchen getrieben hatte, durch das man nur mit bis zu den Lenden gebücktem Körper hindurchgehen konnte, und er schwamm der Dunkelheit entgegen; im gleichen Moment wurde seine schwimmenden Beine aus dem inneren Dunkel kräftig mit etwas geschlagen, wahrscheinlich einem Stück aus einem langen Brett, so dass er kopfüber auf den Boden fiel. Als er strampelnd aufstehen wollte, packte eine zottige Hand seinen Hals und sein Gesicht und rieb mit dem Bodenbrett, während sich das Türchen hinter ihm lärmend schloss und der gleiche Riegel Verzweiflung weckend kreischte. Später zweifelte er selber, wie er sich dieses Tons in dieser völligen Verstörtheit bewusst sein konnte, aber es stimmte, dass er ihn klar gehört hatte.

„Hast`n bekommen?“

Von außen kam diese Stimme, verständlich für niemanden außerhalb der Angelegenheit.

Ja, mein Herr, wir danken Ihnen von Herzen."

Aus der anderen Richtung, über seinen Kopf hinweg, kam die seltsame Antwort, gleichfalls für niemanden verständlich. Mit unterdrücktem, häßlichem Lachen entfernte sich der Klang der Schritte schnell.

Wie ein umgedrehtes Schildkrötenbaby wollte er sich erheben, um noch einmal zu versuchen, unter Tränen zu protestieren und sei es auch vergeblich, aber die zottige Hand drückte seinen Kopf stärker auf den Boden, so dass er keinen Laut herausbrachte.

„He, Dreckskerl, der du bist, welchen Namen hast du von deinen Eltern bekommen? Sag’ uns, wann und welches Verbrechen du in ‚der Welt’ verdammt noch mal gemacht hast? Gestohlen, geraubt, gemordet? oder die Frau eines andern verführt oder Feuer ans Haus eines andern gelegt? Los, gestehe vor Seiner Gnaden, dem Herrscher des Gefängnisses. Hier ist der erste Hof der Hölle und nichts hilft dir mehr, denn den Ort regiert Herr Jamao und der hochberühmte Provoschef Iside Tatewaki, vor denen sogar Höllenoger [1] schweigen würden. Gestehe vor Seiner Gnaden zunächst deinen Namen und Wohnort, und dann, alles, ob Geld, um das Tor der Hölle zu durchschreiten, oder andere Schätze, rein alles leg’ offen vor uns aus, wenn du auf freundliche Behandlung durch uns hoffen willst...“

Von neben ihm fiel diese Stimme stumpf und in einem monoton rhythmischen Singsang auf ihn herab, er, der vollständig zusammengeschrumpft blieb wie eine Katze, die man bei frischem Diebstahl ertappt hat, und konnte nur Stücke des Wortschwalls auffangen.

„Ja, meine Herren, man nennt mich Ititarô, wohnhaft in ...“

Seine Stimme klebte röchelnd auf seiner Zunge fest und machte keine menschliche Stimme, während er sich kaum an diese angeblich wohl bekannte Extravaganz erinnerte, und etwas frei gekommen legte er ein Geldstück, nur schlecht in seinem Mund verwahrt, vor den Lyncher. (Später stellte er fest, dass er sehr tapfer war, seinen Malernamen in dieser Situation nicht preisgegeben zu haben und er wenigstens ihn vor Kotbeschmierung retten konnte).

„Hm, du bist erfreulich verständlich trotz deines Aussehens... Ich gratuliere dir für dich...

„Nun!“

Von beiden Seiten kamen zottige Hände auf ihn zu und in der Dauer eines Wimpernschlages zogen sie ihn aus, bis ihm nur der Untergürtel blieb, und präsentierten die geraubten Kleider ehrerbietig einer Ecke, aus der eine muffige Stimme erklang: Hm, alles aus Seide? Gut, gut, behandelt ihn angemessen! Und man warf als Ersatz einen stinkenden Lumpen auf ihn mit dem Ruf: Hier, eine noch nie erwiesene Freundlichkeit, nimm sie mit von Herzem kommenden Dank entgegen!

„He, nun begrüße Seine Gnaden! So, in dieser Art!“

Die Gesandten der Hölle drückten wieder seinen Kopf auf den Boden, so dass er auf dem Bauch kriechen musste wie eine Spinne.

Obwohl ihm diese Wildheit zumindest vom Hörensagen nicht fremd war, schließlich war er als Künstler von Natur aus neugierig und hörte gerne über verschiedene Sachen außerhalb seines Metiers, so war er doch konsterniert vor der strengen Realität, die ihm so nicht im Traum vorgekommen wäre, ihm, einem einfachen und aufrechten Chōnin [2]. Lange Zeit konnte er sich nicht aus einer beinahen Ohnmacht zurückholen, gleichsam als würde er von einer mächtigen Hand in den Abgrund gezogen.

Jedoch, während er sich kaum festhalten konnte und aufstehen wollte, um an das Gitter zu gehen und zu versuchen sich zu beschweren, wurde er, noch bevor seine Stimme einen Ton formte, von einem brutalen Fuß umgestoßen, und wie ein Adler packte man seine Haare. He, zappel nicht! Selbst, wenn du aus vollem Hals brüllen würdest, deine Stimme würde die Provosbaracke nicht erreichen.

In der schimmelnden Finsternis begann er, Kitagawa Utamaro, darüber zu meditieren, was ihn an diesen Ort geführt hatte. Wie er auch nachdachte, er konnte bei sich keinen Grund erkennen. Er wagte es nicht, irgendein Verbrechen zu begehen, nicht irgendein Delikt. Von Natur aus war er schafesmild oder besser gesagt, er war ein Stück Chōnin unter der drakonischen Herrschaft des Feudalismus, und obwohl auch in ihm manchmal eine sehr kleine Flamme flackerte gegen das gesellschaftliche System, das dem Volk keinerlei Freiheit ließ, nahm sein Hang zum Widerstand stets die Form der Selbstverleugnung: Ausschweifung, in der zu ertrinken das Privileg war, das man den reichen Leuten ließ. Ja, sicher, er führte ein Lotterleben, aber nicht durch Mittel anderer, alles nur mit seinen eigenen Geld erlangt, mit Schweiß auf der Stirn; ja, er war gerne verschwenderisch, aber nur aus seiner eigenen Frucht, die er selbst erntete aus seinem Samen; keine Ungerechtigkeit, kein Hamstern, und er müsste viel anständiger erscheinen, wenn man ihn mit Kaufleuten vergliche. Trotzdem: Er war nun in dieses Gefängnis gesteckt worden, aus dem - nach der offiziellen Statistik - nur einer von Tausend ungestraft zurückkam. Welches Schicksal hatte ihn ereilt?

Hatte er gestohlen oder geraubt? Nichts dergleichen! Hatte er gehamstert und von der sehr oft, sehr dürftigen Ernte profitiert? In keiner Weise! Er suchte und suchte, grub und grub in jeder Ecke seiner Erinnerung, aber er konnte an sich nichts Vorwerfbares finden, es sei denn Moralisches. Hatte ihn also jemand aus irgendeinem Grund verleumdet, z.B. aus Neid? Er konnte sich niemanden vorstellen, der das gegen ihn tun würde. Selbstverständlich war er ein Mensch, der immer wieder irgendeine Sünde nachschleppte, weder ein Gott noch ein allmächtiger und makelloser Budha, und er konnte sich nicht ganz sicher sein, wenn es um moralische Sünde ging. Lŭxus oder unanständiges Verhalten, aber ... niemand ist ja von solchen Sünden frei: Nascherei, Frauen jagen, ... aber ...

Er begann, das Unglück von Anfang an, ab dem heutigen Morgen zu rekapitulieren.

Es war noch früh, er noch auf seinem Lager, als Kitizaemon, der Hausverwalter zu ihm kam und ihn rief: Der Hohe hat einen Verdacht über Ihr Verhalten und will Sie befragen. Also, kommen Sie mit mir. Selbstverständlich glaube ich, dass ein Missverständnis beim Hohen vorliegt und Sie werden sehr bald zurückkehren. Angesichts dieses fast entschuldigenden Tones wurde er blaß, so dass sein Nachrausch sich für einen Moment verflüchtigte wie Frühjahrsschnee in der Morgensonne. ...

[Utamaro wird schließlich aus dem Gefängnis befreit und zu 50 Tagen in Handfesseln verurteilt, die er in seinem eigenen Haus ableisten darf. Aber die Haft hat ihn gebrochen. Aus dem wohlgenährten Bourgois und Künstler auf dem Höhepunkt seiner Anerkennung ist ein ängstliches, menschenscheues, kraftloses Gerippe geworden. Sein Verleger und Freund versucht ihn aufzurichten. Noch einmal flackert in ihm die alte Lebens- und Schaffenskraft auf, doch bei der ersten Einladung nach Monaten der Isolation kommt es zu seinem banalen und unschicklichen, überraschenden Tod - Utamaros Tod].

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[1] Oger: Märchen- und Sagenfigur, menschenfressende Ungeheuer, meist Riesen.

[2] Chōnin: soziale Klasse des städtischen Bürgertums am Ende des 17. Jh. in Japan.

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Esperanto-Original:

La morto de Utamaro [Utamaros Tod]. In: Miyamoto, Masao: Pri arto kaj morto [Über Kunst und Tod] - rakontoj originale verkitaj en Esperanto [Erzählungen auf Esperanto verfasst] / Miyamoto Masao. Gamagori-ŝi [Japan]: Esperanto-Kenkjuŝa 1967, 170 p.

Portugiesische Übersetzung:
Masao, Myiamoto: Da arte e da morte / Miyamoto Masao. Trad. directa e prefácio de Manuel de Seabra. Lisboa: Ed. Futura 1973, 177 p.

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Zu Miyamoto masao s. den Artikel in der Concise Encyclopedia of the Original Literature of Esperanto - CEOLE 2008, S. 254 ff.