Ich schreibe diese Zeilen in unserer alten Wohnung in Weilerswist. Genau drei Wochen sind vergangen seit der Flutkatastrophe im Tal der Ahr – uns hat es glimpflich getroffen, wir sind gesund und die materiellen Verluste überschaubar. Auch wenn wir jetzt vor schwierigen Entscheidungen stehen – wir sind flexibel und haben die Möglichkeiten, uns neu zu sortieren. Viele andere Betroffene können dies, fürchte ich, nicht von sich sagen. Für mich persönlich ist es Zeit, meine Erinnerungen an die Tage der Katastrophe niederzuschreiben – vielleicht auch als eine Art Katharsis.

Mittwoch, 14. Juli 2021
Der 14. Juli ist in vielerlei Hinsicht ein historisches Datum, besonders natürlich bei unseren französischen Nachbarn. Aber auch für mich selbst hat dieser Tag eine besondere Bedeutung: der 14. Juli ist mein Geburtstag. Manche dieser Geburtstage habe ich mit meiner Frau auf Kurzreisen gefeiert, z.B. in Berlin oder Amsterdam. An anderen Geburtstagen haben wir Ausflüge gemacht, oder Shopping-Touren nach Luxemburg. An diesem 14. Juli ist das anders, aus verschiedenen Gründen habe ich meine Urlaubstage auf andere Wochen gelegt. Der 14. Juli 2021 beginnt als ganz normaler Tag im Home-Office.

Und es ist ein ruhiger Tag, auch in Bezug auf das Wetter. Der Tag ist verregnet, gewiss, wie schon so mancher Tag in diesem Sommer. Aber von Starkregen kann keine Rede sein, davon sprechen nur einige Kollegen aus der Eifel oder dem Aachener Raum während unserer morgendlichen Telefonkonferenz. In Bad Neuenahr dagegen fällt der Regen beharrlich, aber keinesfalls sintflutartig. Als ich während der Mittagspause kurz zum Supermarkt fahre, ist es allenfalls ein Nieselregen.

Am Nachmittag mache ich mich dann auf den Weg nach Weilerswist, zu meinen Eltern, die mir gratulieren wollen. In Bad Neuenahr ist es immer noch äußerst ruhig, nichts deutet auf die nahende Flut hin. Zumindest für den Normalbürger nicht – die Behörden sind offenkundig bereits im Vorfeld von Meteorologen und anderen Wissenschaftlern gewarnt worden.

Erste Hinweise, dass dies kein ganz so ruhiger Tag war, bekomme ich auf dem Weg. Ich fahre über die Landstraße, um im nahe gelegenen Rheinbach noch den Gutschein einer Weinhandelskette einzulösen. In den Dörfern auf dem Weg strömt Wasser bereits aus den Gullys, die Kanalisation kann die Regenmenge nicht mehr verarbeiten. An mehreren Stellen, z.B. in Ersdorf, müssen überflutete Abschnitte der Straße weiträumig umfahren werden. Als ich an der Anschlussstelle Rheinbach der Autobahn A61 ankomme, entscheide ich, auf direktem Weg über die Autobahn nach Weilerswist zu fahren.

Am frühen Abend, es muss gegen 19:15 Uhr sein, verabschiede ich mich von meinen Eltern und trete die Heimreise an. Über die Autobahn dauert dies in normalen Zeiten weniger als eine halbe Stunde. Die A61 ist noch offen – allerdings wundert mich, dass mein Navi mir vorschlägt, am Kreuz Meckenheim die Autobahn zu verlassen und über die Landstraße weiterzufahren. Im Radio finde ich dann die Erklärung – ab Meckenheim ist die Autobahn wegen Überflutung gesperrt.

Der Stau am Kreuz Meckenheim ist lang – es dauert eine gefühlte Ewigkeit, bis ich die Autobahn verlassen kann. Auch die Landstraße durch die Gemeinde Grafschaft scheint keine gute Alternative zu bieten, also fasse ich den Plan, über Esch nach Dernau und dann durch das Ahrtal nach Bad Neuenahr zu kommen. Auf dem Weg sehe ich einige Soldaten am Straßenrand – sie wissen auch nichts über die genaue Lage, haben jedoch von Evakuierungen ganzer Ortschaften gehört; eine Falschinformation übrigens, zu diesem Zeitpunkt, etwa 20:30 Uhr, denkt noch niemand im Krisenstab so weit.

In der Ortschaft Esch stoppt mich schließlich eine Polizistin. Weiter könne ich nicht fahren, an einigen Stellen stünde in den Dörfern das Wasser 1,50 Meter hoch. Deutlich oberhalb des Ahrtals, wohlgemerkt – in Bad Neuenahr ist es immer noch ruhig, wie mir meine Frau am Telefon mitteilt. Die Feuerwehr hat die Bewohner unseres Hauses lediglich aufgefordert, die Autos aus der Tiefgarage zu fahren und die Keller nicht mehr zu betreten. Mit meiner Frau entscheide ich, nach Weilerswist zurückzukehren und die Nacht dort zu verbringen.

Abermals fahre ich über die A61 – auf der Fahrbahn Richtung Norden sind bereits Einsatzfahrzeuge der Feuerwehr unterwegs, und schon bald sehe ich auch, warum. Kurz vor der Raststätte Peppenhoven ist die Fahrbahn schon recht stark überflutet, beim Blick auf das vor mir fahrende Auto habe ich zum ersten Mal ein richtig mulmiges Gefühl. Unmittelbar hinter der gefluteten Stelle ziehe ich, wie alle anderen auch, auf die ganz linke Spur, denn dort steht kein Wasser. Die Autobahn ist temporär gesperrt, ich vermute, die Feuerwehr muss eine noch stärkere Überflutung etwas weiter nördlich abpumpen. Auch das Mobilfunknetz funktioniert nicht mehr richtig, ich kann weder meine Frau noch meine Eltern erreichen. Viele Fahrer steigen aus, ich auch, es regnet nicht mehr, man könnte von einem etwas zu kühlen Sommerabend rede. Bis mein Blick auf die Gegenfahrbahn fällt, wo niemand unterwegs ist. Dort steht das Wasser, ich schätze etwa 20 Zentimeter hoch. Oder besser: es fließt. Die Gegenfahrbahn ist zu einem kleinen Fluss geworden, und ich hoffe, der kleine Damm zwischen den Fahrbahnen möge doch bitte halten. Das tut er zum Glück auch, und nach einiger Zeit wird die Sperrung aufgehoben.

Ich verlasse die Autobahn wie gewohnt an der Anschlussstelle Weilerswist, muss aber bald schon drehen. Auf dem Weg in den Ort, unter einer Brücke, hat sich zu viel Wasser gesammelt, ein Mann in einer Uniform vom Zoll weist die Fahrer an, umzukehren. Also wieder zurück auf die Autobahn – über das Kreuz Bliesheim komme ich schließlich zur Anschlussstelle Weilerswist-West, die offen ist, ebenso wie der Weg ins Dorf. Gegen 22:30 erreiche ich das Haus meiner Eltern, die bereits mehrfach versucht haben, mich anzurufen. Abermals rufe ich meine Frau an; in Bad Neuenahr ist immer noch alles ruhig. Da der Akku meines iPhones nur noch bei etwa 20% steht, schlägt Mrs. Delminho mir vor, das Telefon über Nacht abzuschalten. Ein oder zwei Gläser Wein später gehe ich schlafen.

Donnerstag, 15. Juli 2021
Ich werde sehr früh wach, schalte das Mobiltelefon ein und entdecke eine Voicemail, die meine Frau gegen 0:30 Uhr geschickt hat. In Bad Neuenahr war es da nicht mehr ruhig, der Strom war ausgefallen, und in der Straße toste das Wasser. Mrs. Delminho empfahl mir, vor einem weiteren Versuch, nachhause zu kommen, noch einmal anzurufen. Der Versuch, sie anzurufen, scheitert allerdings.

Ein Blick auf den Rechner meines Vaters verschafft mir einen ungefähren Überblick über die Verkehrssituation. Die A61 ist inzwischen von Kreuz Bliesheim bis Kreuz Meckenheim in beiden Fahrtrichtungen gesperrt. Aus der Vergangenheit weiß ich, dass die Dörfer entlang der Swist regelmäßig mit Hochwasser zu kämpfen haben, dieser Weg kommt also auch nicht infrage. Der Weg durch den Wald nach Brühl, dort ein kurzes Stück über die Autobahn A553 bis zur Anschlussstelle Bornheim, von dort durch die Dörfer des Vorgebirges bis Hardtberg, und dann über die A565 Richtung Meckenheim und weiter nach Bad Neuenahr sieht am vielversprechendsten aus.

Kurz nach 6:00 Uhr fahre ich los. Am Ortsausgang von Weilerswist fällt mir auf, dass die Swist, dieser sonst so harmlose Bach, weit über die Ufer getreten ist. Die Landstraße nach Brühl ist aber passierbar. Auf dem Weg durch das Vorgebirge komme ich mir vor wie in einer anderen Welt, hier hat es kein Hochwasser gegeben. Im Berufsverkehr, der um diese Zeit noch recht spärlich fliesst, erreiche ich die A565. Während der gesamten Fahrt höre ich Autoradio, und ärgere mich mehr und mehr. Es gibt hier einen Sender, „SWR Aktuell“ genannt. Ein reiner Nachrichtensender für den Südwesten von Deutschland, zu dessen Sendegebiet auch das Ahrtal gehört. Man sollte annehmen, in einer Situation wie dieser dort Informationen aus den Katastrophengebieten zu bekommen, rund um die Uhr. Stattdessen höre ich z.B. Analysen zu Merkels Besuch bei Biden, und als Höhepunkt des Tages ein Interview mit einem Literaturwissenschaftler – es geht dabei um Hobbits… Ich lache verzweifelt – in der Region kämpfen Menschen ums Überleben, und der einzige staatliche Nachrichtensender erzählt dem Publikum etwas über Hobbits.

Der weitere Weg über Meckenheim nach Bad Neuenahr verläuft überraschend problemlos, erst vor der Anschlussstelle Neuenahr-Zentrum staut sich der Verkehr. Es geht nun nur noch schrittweise voran, erst gegen 8:00 Uhr erreiche ich die Abfahrt. Ein Passant, den ich anspreche, erwähnt Evakuierungen der Häuser links und rechts des Flusses. Dies ist allerdings nicht korrekt – der Krisenstab hat zwar in der Nacht Evakuierungen angeordnet, aber da war es für solche Maßnahmen längst schon zu spät.

Ein Polizist hält mich schließlich an – in die Stadt will er mich nicht lassen. Stattdessen empfiehlt er, durch die Weinberge zum Flugplatz zu fahren, und dort zu warten oder es vielleicht zu Fuß zu versuchen. Einen Überblick über die Situation hat auch er nicht. Ich fahre Richtung Flugplatz, treffe auf dem Weg eine Dame meines Alters in Begleitung ihrer erwachsenen Tochter und ihrer Enkelin. Die drei sind wohl auf dem Rückweg aus dem Urlaub, haben die Nacht im Auto verbracht. Zur ihrer Familie, die ganz in der Nähe der Ahr lebt, haben sie keine Verbindung – das Mobilfunknetz ist weiterhin gestört. Die kleine Gruppe ist bereits am Anschluss Neuenahr-Ost abgefahren, die jüngere Frau hat auf dem Weg entlang der Heerstraße ein Foto gemacht. Sogar an der Aral-Tankstelle steht das Wasser mindestens bis zu den Knöcheln.

Ich überlege: wenn das Wasser bis knapp vor der Heerstraße steht, dann steht es weiter unten, an unserem Haus, mindestens brusthoch. Der Akku meines iPhones ist inzwischen leer. Ohne Kommunikationsmittel kann ich hier überhaupt nichts ausrichten. In Weilerswist dagegen, bei meinen Eltern, gibt es Festnetz und Internet. Und wenn ich meine Frau von dort nicht erreichen kann, bleibt immer noch die Möglichkeit, zuständige Behörden zu kontaktieren. Vielleicht ist sie ja bereits evakuiert worden, so hoffe ich zumindest. Ich mache mich also auf den Rückweg.

Dieser Rückweg wird dann zur Irrfahrt – ich versuche zunächst einen möglichst schnellen, direkten Weg, will an Rheinbach vorbei bis kurz vor Euskirchen fahren, von dort dann auf kleineren Landstraßen über die Dörfer. In den Orten der Gemeinde Grafschaft ist das Wasser bereits zurückgegangen, überall laufen Aufräumarbeiten. Rund um Rheinbach sieht es anders aus: auf der Umgehungsstraße geht es allenfalls schrittweise voran, immer wieder brausen Einsatzfahrzeuge der Feuerwehr vorbei. Ich versuche einen Schleichweg, doch bereits im ersten Dorf steht das Wasser an einem Kreisverkehr deutlich zu hoch für mein Auto.

Ich drehe um, und fahre bei Gelsdorf wieder auf die A565 – auf dem gleichen Weg wie am frühen Morgen geht es nun zurück. Der Verkehr ist nun dichter, die Fahrt dauert etwas länger. Als ich beim Freizeitpark Phantasialand die A553 verlasse, fühle ich mich erleichtert – aber nur für kurze Zeit. Die Autofahrer im Gegenverkehr machen klare Handbewegungen: umdrehen. In der Tat: kurz vor dem Swister Berg staut sich der Verkehr, jeder versucht irgendwie auf der Landstraße zu wenden. Später werde ich erfahren, dass die Swist in der Zwischenzeit auf eine Breite von 60 Metern angewachsen ist und die Straße nach Weilerswist überflutet hat.

Ich kehre um nach Brühl und versuche, mich über die Luxemburger Straße und Erftstadt nach Weilerswist durchzuschlagen. Von der Situation in Erftstadt hat der SWR natürlich kein einziges Wort gesagt – mich wundert der riesige Stau auf der Ausfallstraße aus Brühl. Wieder wende ich – die Autobahnen scheinen, bis auf die A61, am wenigsten betroffen zu sein. Also versuche ich die ganz weiträumige Umfahrung des Chaos.

In Godorf fahre ich auf die A555, wechsle am Kreuz Köln-Süd auf die A4 Richtung Westen. Am Autobahnkreuz Frechen ist die Zufahrt zur A1 bereits gesperrt, also fahre ich weiter bis zum Kreuz Kerpen. Dort ist die A61 noch offen, also geht es auf dieser Autobahn nun Richtung Süden. Zweimal zwinge ich mein Auto mit bangem Herzen durch recht hohe Überflutungen, der Wagen hält es zum Glück aus. Am Autobahnkreuz Bliesheim lande ich dann in der nächsten Sperrung.

Über die Rettungsgasse fahren mehrere Wagen des Technischen Hilfswerks vorbei, einer hat einen Anhänger mit einem Schlauchboot. Ein LKW-Fahrer aus dem Saarland witzelt: „Ist das unsere Fähre?“ Er und sein Kollege müssen nach Saarbrücken, also mitten durch die Überflutungsgebiete in der Eifel. In Gesprächen mit anderen erfahre ich zum ersten Mal von der Krisensituation entlang der Erft. Das Rückhaltebecken bei Niederberg ist kurz davor, zu brechen. Auch die Steinbachtalsperre ist in einem kritischen Zustand – wie ich später hören werde, ist es ein örtlicher Kleinunternehmer, der in Eigeninitiative den offenbar schon länger nicht mehr gewarteten Abfluss der Talsperre freiräumt und somit eine größere Katastrophe verhindert. Die zuständigen staatlichen Stellen waren in den letzten Jahren wohl mit anderen Aufgaben beschäftigt…

Ich entdecke, dass der lokale Sender „Radio Erft“ im Gegensatz zu vielen anderen tatsächlich aktuelle Informationen zur Flutkatastrophe bringt. Das Krankenhaus in Erftstadt wird zu diesem Zeitpunkt durch Helikopter evakuiert, ebenso auch Bliesheim, ein Dorf nur wenige Kilometer von Weilerswist entfernt. Vor vielen Jahren bin ich dort in den Fitnessklub gegangen.

Nach einiger Zeit wird die Sperrung aufgehoben. Die Anschlussstelle Weilerswist-West ist nun aber ebenfalls gesperrt, ein Polizist erklärt mir, man käme nur noch über Euskirchen nach Weilerswist. Seltsam, kurz zuvor hat mir ein anderer Verkehrsteilnehmer in der Sperrung Fotos von Euskirchen gezeigt, am frühen Morgen stand die Fußgängerzone dort unter Wasser… Dennoch verlasse ich die Autobahn in Euskirchen, quäle mich langsam in die Stadt hinein. Die meisten anderen Autofahrer wollen auf die Ringstraße am Stadtrand abbiegen – ich setze auf Risiko und fahre durch die Innenstadt Richtung Bahnhof. Das Hochwasser ist bereits zurückgegangen, doch die Verwüstungen sind sichtbar, und überall steht ein beißender Geruch nach Heizöl. Auch die Brücke über die Erft ist zum Glück passierbar, und über die Landstraße erreiche ich schließlich Weilerswist. Der Weg von Bad Neuenahr hat über sechs Stunden gedauert.

Am Ortseingang von Weilerswist wundert mich, dass die Tankstelle geschlossen ist. Viele Passanten stehen am Straßenrand und diskutieren, auch der Edeka-Markt sieht dunkel aus. Am Haus meiner Eltern angekommen, begrüßt mich mein Vater mit Wassereimern in der Hand. Auch in Weilerswist ist der Strom mittlerweile ausgefallen, die Wasserpumpe läuft nicht mehr. Eine Zeit lang schippen wir das Wasser in Eimern aus dem Pumpensumpf im Keller.

Mich packt langsam so etwas wie Verzweiflung – wie es meiner Frau geht, weiß ich nicht. Kommunikationswege gibt es keine mehr, und ich fühle mich zunehmend hilflos. Mein Vater und ich fragen bei einem Nachbarn nach – der hat auch ein iPhone und leiht mir sein Ladekabel. Ich fahre wieder nach Euskirchen, dort waren die Tankstellen noch geöffnet und der Tank meines Wagens ist ziemlich leer. Auf dem Weg lade ich das iPhone über den USB-Anschluss des Autos. Irgendwo zwischen Weilerswist und Euskirchen blinkt das Mobiltelefon – Mrs. Delminho hat gerade versucht, mich zu erreichen. Ich fahre an den Straßenrand und rufe zurück. Sie ist noch in der Wohnung, ohne Strom und Warmwasser, aber es geht ihr gut, Gott sei Dank! Das Wasser steht auf der Straße nur noch knöchelhoch – angesichts der späten Tageszeit verabreden wir uns für den nächsten Tag. Nach dem Tanken beantworte ich in aller Kürze die besorgten Nachfragen einiger Kollegen.

Am Abend sitze ich mit meinen Eltern und meiner Schwester nebst Anhang bei Kerzenlicht zusammen. Informationen sind rar, offenbar hat es die tiefer liegenden Teile von Weilerswist recht stark getroffen. Am späten Abend bringt der Schwiegervater eines anderen Nachbarn aus Thüringen einen dieselbetriebenen Stromgenerator mit. Die Pumpen in den Kellern können nun wieder ihr Werk verrichten.

Freitag, 16. Juli 2021
Am frühen Morgen mache ich mich auf den Weg nach Bad Neuenahr – die A61 ist immer noch gesperrt, ich nutze die Landstraße, fahre an Euskirchen und Rheinbach vorbei. In vielen Orten laufen Aufräumarbeiten, aber so früh am Morgen kommt man relativ zügig durch. Ich habe extra alte Schuhe angezogen, die ich eigentlich schon wegwerfen wollte – in den Straßen nahe der Ahr steht immer noch schlammiges Wasser, wenn auch nur noch knapp knöchelhoch.

Ich stelle das Auto am Parkplatz beim Kaufhaus Moses ab. Über der Stadt liegt der Geruch von ausgeflossenem Heizöl, auf den Straßen liegt Schutt, kaputte Autos liegen teilweise auf dem Dach oder auf der Seite. Ich fühle mich wie ein Statist in einem Katastrophenfilm. An unserem Haus ist ein Feuerwehr-Trupp aus der Nähe von Bad Kreuznach aktiv, die ganze Nacht über haben die Männer nun Wasser abgepumpt und das Haus einigermaßen begehbar gemacht. Noch im Treppenhaus treffe ich meine Frau – wir gehen in die Wohnung, dort ist es relativ dunkel. Unsere Rollläden sind elektrisch, ohne Strom bekommt man sie nicht nach oben. Nur eine einzige, an der Balkontüre, lässt sich mit einer Kurbel bewegen. Mrs. Delminho erzählt mir von der Flutnacht und dem Tag danach.

In Bad Neuenahr war es bis kurz vor Mitternacht ruhig gewesen – dann hatte sie gehört, dass draußen auf der Straße Leute schrien und liefen. Der Strom fiel aus, zum Glück hatten wir eine Stabtaschenlampe, die Mrs. Delminho nach unserem Telefonat am Vorabend bereitgelegt hatte. Aus dem Badezimmerfenster, dessen Rolllade ein Stück weit offen war, konnte sie die Straße sehen. Dort rauschte das Wasser, die Mülltonnen des Hauses wurden bereits weggespült.

Etwas später klopfte es an der Türe – es war eine Nachbarin aus dem 1. Stock, die sich eine Etage höher sicherer fühlte. Gemeinsam verbrachten die beiden die nächsten Stunden, zählten immer wieder, wie viele Treppenstufen zum 1. Stock noch nicht vom Wasser erreicht waren. Zunächst waren noch sieben Stufen zu sehen, dann im Laufe der Nacht immer weniger. An der vorletzten Treppenstufe stoppte das Wasser, ging danach sehr langsam wieder zurück.

Im Laufe der Dämmerung war die Straße immer besser zu sehen. In den Fluten trieben allerlei Dinge vorbei: ein Buddha aus Plastik, der normalerweise im Eingang eines nahen Thai-Restaurants stand, ebenso eine große Eistüte aus dem gleichen Material, die zu einer Eisdiele am Platz an der Linde gehörte. Die Flut kam dabei übrigens nicht direkt aus Richtung der Ahr, sondern primär aus der Gegenrichtung. Ich nehme an, dass der Fluss ein Stück weiter stromaufwärts über die Ufer getreten ist, und sich dann durch die Straßen der Stadt wälzte. So kam es, dass im Wasser Gegenstände aus den Geschäften der Fußgängerzone trieben, z.B. Schaufensterpuppen. Und sogar Autos, so stark war die Strömung.

Es dauerte Stunden, bis der erste Hubschrauber über der Stadt zu hören war. Und erst nach Mittag – da suchten in unserem Viertel bereits einige Privatpersonen nach ihren Verwandten – tauchten dann die ersten Feuerwehrleute auf und wateten durch das immer noch bis zum Bauch reichende Wasser in unserer Straße.

Der weitere Verlauf der Dinge, und der Versuch eines Ausblicks
Für knapp zwei Wochen bot die Hausverwaltung allen Mietern eine Ausquartierung in Hotels an. Wir nahmen das Angebot an und landeten in Koblenz. Nach einer Woche besuchte uns dort die Hausverwalterin und ihr Gatte. Auch wenn die Wohnungen ab dem ersten Stock von der Flut verschont wurden: Keller und Erdgeschoss unseres Gebäudekomplexes sind komplett verwüstet, somit natürlich aus die ganze Haustechnik. Bis das Haus wieder in einem bewohnbaren Zustand ist, kann gut und gerne ein Jahr vergehen.

Trotzdem geht es uns natürlich immer noch viel besser als vielen anderen in Bad Neuenahr und dem ganzen Ahrtal. Die ganze Region ist schwer verwundet – sie lebt vom Weinbau, vom Tourismus und von Kurgästen. Aber die meisten Winzer haben ihre Weingüter komplett in der Flut verloren, ähnliches gilt natürlich für die meisten Hotels und Pensionen. Auch die Verkehrsinfrastruktur ist stark beschädigt – die Eisenbahnlinie, Straßen, fast alle Brücken hat die Flut mitgerissen. Weite Teile des Tals sind weiterhin ohne Strom und Trinkwasser.

Mit besonderem Blick auf Bad Neuenahr: viele der so wichtigen Kurkliniken liegen nahe am Fluss und dürften massiv beschädigt sein. Es wird lange dauern, bis sie wieder Kurgäste aufnehmen können. Auch Hotellerie und Gastronomie sind von den Schäden durch die Flut betroffen, ebenso die Geschäfte in der Fußgängerzone. Die einst so schönen Parkanlagen sind, soweit ich das beurteilen kann, Schlammwüsten, und der Schlamm ist belastet durch Heizöl und Benzin, andere Chemikalien und Fäkalien. Strom-, Wasser- und Gasversorgung ist überwiegend zerstört.

Gerade die Schäden an der staatlichen Infrastruktur machen mir dabei Sorgen. Denn der private Sektor funktioniert – Nachbarn helfen sich gegenseitig, Handwerker und Landwirte kommen aus dem nahen und weiteren Umland mit ihren Gerätschaften, um bei den Räumungsarbeiten freiwillig mitanzupacken. Viele freiwillige Helfer kommen von nah und fern, packen an, gehen von Haus zu Haus, verteilen Kaffee und warme Mahlzeiten. Im Vergleich dazu wirken die staatlichen Stellen nicht wirklich überzeugend. Immer wieder hört man von mangelnder Koordination und anderen Organisationsmängeln. Die Leute an der Basis, bei Technischem Hilfswerk, Feuerwehren, Militär und Polizei leisten teilweise heldenhafte Arbeit. Aber von oben, da kommt von Kanzlerin Merkel und Ministerpräsidentin Dreyer nur das politisch übliche Betroffenheitsgerede, und die Verwaltungsspitze (oberhalb der Kommunen) wirkt nicht wirklich kompetent in dieser Krise.

Es wird vermutlich viele Jahre dauern, bis unser Tal wieder so schön sein wird, wie es am 14. Juli 2021 noch war. Bis dahin werden Arbeitsplätze in Gesundheitswesen und Tourismus verloren gehen, und viele Menschen werden abwandern. Der kleine Hoffnungsschimmer für Bad Neuenahr mag dann sogar seine Altersstruktur sein – unser Städtchen ist ja so etwas wie ein westdeutsches Florida im Kleinformat. Viele unsere Bewohner sind ältere Leute, die ihren Lebensabend im Tal der Ahr verbringen wollten. Mit einigen waren wir im Hotel ausquartiert – viele sind zu alt, um noch einmal umzuziehen. Die meisten der Alten werden wohl bleiben, oder zumindest aus dem Exil zurückkehren, sobald dies möglich ist. Und viele von ihnen sind vergleichsweise wohlhabend, können also den Einzelhandel auch in den kommenden Zeiten ohne Kurgäste und Touristen einigermaßen beschäftigt halten. Viel mehr Hoffnung habe ich leider derzeit nicht.