Dialogik am Ende der Dialektik

Einführung

Zwei große Denkweisen beherrschen die europäische Denkgeschichte seit den alten Griechen bis hin in unsere Gegenwart: Die eine ist die logische, die andere die dialektische. Um die eine scharen sich im allgemeinen die Naturwissenschaften, um die andere die Geisteswissenschaften.

Platon wurde zum Vertreter der Dialektik und Aristoteles zu dem der Logik. Die beiden Denkweisen entwickelten sich in verschiedenen Interpretationen durch die Geschichte der Philosophie in ihren Gegensätzen. Andere Möglichkeiten, wo die Wirklichkeit auch jenseits dieser Gegensätze wahrgenommen werden konnte, wurden ausgeschlossen oder überhört.

Hegel vollzog spekulativ die Synthese. In Wirklichkeit beherrschte aber sein Prinzip weiterhin nur die Geisteswissenschaften, jedoch umso ausschließlicher. Je mehr unbegreifbare Phänomene in einem Wissenschaftszweig vorkamen, desto mächtiger wurde die Herrschaft der Dialektik. (z.B.: Geschichte Soziologie, Psychologie, Pädagogik, Linguistik, Politik, usw.) Sie ließ im Gegensatz zur Logik, welche die Erkenntnisse in Formen zwang, eine scheinbare Freiheit zu.

Und gerade dort, wo sich die hegelsche Dialektik mit äußerstem Ernst produzierte, (in den internationalen Beziehungen, mit Politik und Krieg) zeigte sich zuerst mit eindeutiger Klarheit auch ihre Grenze. Die hegelsche Maxime: “Was vernünftig ist, ist wirklich und was wirklich ist vernünftig”, erfüllte sich in der Wirklichkeit. Vernünftig ist die Grenze der hegelschen Dialektik offenkundig geworden.

In den internationalen Beziehungen des zwanzigsten Jahrhunderts wurde konkret die Grenze der Dialektik erkannt und hier konnte auch, die philosophisch schon vorausdachte Dialogik, ihre praktische und notwendige Hilfe einsetzen. In der Gegenwart ist allgemein anerkannt worden, dass die zwischenstaatlichen Beziehungen nur noch dialogisch geschehen können. Kein Staat kann mehr mit allem ihm zu Verfügung stehenden Mitteln seine Interessen durchsetzen. Darin zeigt sich die reale Grenze der Dialektik.

Einige außereuropäische Kulturen haben schon bedeutende Traditionen im der Wahrnehmung der Wirklichkeit auch außerhalb der Gegensätze der Dialektik und der Logik. Für das europäische Denken, an der Grenze der Dialektik, hat sich erst durch den dia-logischen Weg der Dialogik die Möglichkeit eröffnet, mit diesen Kulturen in Beziehung zu treten und auch Selbst Erfahrungen in diesem Bereich zu machen. Das “neue Denken” der europäischen Philosophie hat sich von der Gegenständlichkeit des Gegenstandes befreit und hält sich nun dialogisch für universelle Erfahrungen in der Welt offen und frei.

Obwohl in bestimmten Bereichen der Wirklichkeit die dialogische Handlungsweise unausweichlich geworden ist, herrscht noch immer breites Unverständnis über die Dialogik und ihrer philosophischen Herkunft. Sie wird oft, ja meistens, mit der Dialektik verwechselt; und sogar auch in den akademischen Kreisen. Aus diesem Umstand her, ist die Zentrale Aufgabe der vorliegenden Arbeit, eine Beihilfe zum Verständnis der Dialogik im Unterschied zur Dialektik zu leisten.

Im 1.Teil wird exemplarisch an Hegels Dialektik untersucht und dargestellt die Entwicklung der dialektischen Gegensätze, ihre Grenze und ihr Ende.
Im 2.Teil wird dann ein dialogischer Auslauf aus der Grenzsituation der Dialektik mit Franz Rosenzweig gesucht.
Im 3.Teil wird ein Vergleich der hegelschen Dialektik mit der rosenzweigschen Dialogik durchgeführt und dadurch die Verschiedenheit der beiden Phänomene herausgestellt.
Im 4.Teil wird Heideggers Denken als nicht-dialektisches Exemplar des Auslaufs aus der Gegenständlichkeit des europäischen Denkens gezeigt
Im 5.Teil werden anschließend einige Einsichten in die ungegenständliche Vorgehensweise des “neuen Denkens” gewonnen.

In diese Arbeit wird die Meinung vertreten, dass es von existenzieller Bedeutung ist für die Zukunft, die Dialogik von der Dialektik zu unterscheiden. In den Bereichen der Wirklichkeit, wo sich die Grenze der Dialektik unmissverständlich gezeigt hat, werden schon dialogische Lösungen verwendet. Dort aber, wo die Dialogik nicht, oder noch nicht unerlässlich ist, werden weiterhin dialektische Handlungsweisen bevorzugt.

Z.B.: Die Nationalstaaten, innerhalb ihrer Grenzen nutzen überwiegend die Dialektik. Dies wird als Souveränität verstanden. Es fängt bei der Erziehung an. Nationalsprache, Nationalgeschichte, die ganze soziale Ordnung , ist voll mit offener oder verdeckter Dialektik. Die Sprachen, in ihren oft tausendjährigen Entwicklungen, sind mit auf dem ersten Blick nicht zu erkennenden dialektischen Rückständen durchsetzt. Nationalgeschichten und- Literaturen liefern eine Menge von Unstimmigkeiten zueinander und zur Wirklichkeit.

Beispielhaft ist die Verschiedenheit dialektischen und dialogischen Handelns an der Diskrepanz der Politik der internationalen und der nationalen Organisationen zu erkennen. Die erstere versucht die neuesten Errungenschaften zu veröffentlichen und zu verbreiten; Aufklärung, Demokratie, Menschenrechte, usw. Letztere dagegen zu verschleiern und die Gegensätze weiter treiben, um ungehindert ihre Macht ausüben zu können.

Mit besonderer Aktualität und Intensität zeigte sich diese Problematik am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts. Einige Denker erkannten dabei die in sich gekehrte Unzulänglichkeit des europäischen Idealismus und suchten nach neuen Lösungen. Aus diesem Bedürfnis entstand ein “neues Denken” das für neue Erfahrungen nun offen steht.

Im Verstehen des “neuen Denkens” liegt aber bis in unsere Gegenwart ein deutlicher Nachholbedarf. Dies, obwohl die Philosophie den Übergang noch in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts vollzogen hat. Die reale Grenze der Dialektik hat sich dann in der Mitte des Jahrhunderts mit unmissverständlicher Eindeutigkeit gezeigt. Am Ende des Jahrhunderts ist dann die politische Weltordnung nach diesem Prinzip umgestaltet worden. Und doch blieb dieses Denken bis heute weitgehend unverstanden und wahrscheinlich auch deshalb unbekannt.

Wie groß das Defizit im Verstehen und Gebrauch des “neuen Denkens” ist, kann an in besonderen an den europäischen Universitäten beobachtet werden. In den Lehrangeboten fehlen weiterhin die Disziplinen der Inter-Wissenschaften. Sowie, es ist meistens auch der Dialog innerhalb der einzelnen Fachbereichen und zwischen den einzelnen Universitäten zu vermissen.

Es fehlt an der Wissenschaft der “Inter”. Dies ist nicht nur das Aufreihen und Nebeneinanderstellen von Verschiedenen Fakten, sondern es ist selbst ein reales Faktum, eine neue Qualität, was aus der Synthese des Einen mit dem Anderen entsteht. Das “Inter” zwischen zwei Fakten ist, (im “neuen Denken”) nicht Nichts, sondern ein wirklich entstandenes, nicht wegzuschaffendes Etwas.
Z.B.: Die Internationale Politik ist nicht nur die Summe der Interessen der Nationalstaaten, sondern sie ist selbst ein Faktum. Die Interlinguistik ist nicht nur die Beziehung zwischen den Nationalsprachen, sondern aus ihr entsteht eine neue Qualität der Internationalen Sprache.

Das was diese “neue Qualität” entstehen ließ, ist das “Prinzip” des “neuen Denkens”. Dieses Prinzip reicht weit in die Gebiete des Geistes, bis in die Naturwissenschaften hinein. In der Physik vollzogen sich die Entdeckungen der Relativitätstheorie und der Quantenmechanik in diesem Geistigen Vorfeld. Theologie, Politologie, Psychologie, Linguistik, Kunst, usw., alles was bedeutend und neu in verschiedenen Bereichen des menschlichen Daseins im zwanzigsten Jahrhundert erdacht und geschaffen worden ist, ist in der Tiefe seines Geistes von diesem Prinzip geprägt.

Obwohl dieses Prinzip in der begrifflichen Genauigkeit, die besonders die Naturwissenschaften gewohnt sind, nicht zu definieren ist, bestimmte es diese dennoch auch entscheidend gerade dadurch, dass es sie ermutigte, über das eigene System hinauszuragen. Und dabei wurde etwas anderes erfahren, etwas unendlich Großes, allumfassend Universales, wo das Dasein, das System, das Denken, das Ich nur existent sein kann, wenn es mit dem anderen in Beziehung ist. Es hat sich etwas gezeigt, was allgemein die Aufeinanderangewiesenheit genannt werden kann.

Diese Beziehung im Universum mit dem Universalen und mit dem unmittelbaren Nächsten, welche jedes Dasein, so auch das jedes einzelnen ermöglicht, liegt jedem Atom, jedem Molekül, von den Sternen bis zur Milchstraße zugrunde. Wie weit und wie tief ich auch zu denken vermag, immer treffe ich in der Wirklichkeit noch auf etwas anderes. Auf etwas anderes als ich es bin. Ich kann mir vorstellen, dass am Anfang alles eins war und am Ende alles eins sein wird, ja eine einzige, irgendwelche Substanz. Ich kann sogar alles auf Wasser, Feuer, Atom, Geist, oder Licht zurückführen, in Wirklichkeit bleiben aber nur ich und etwas anderes. Meine Einheit bleibt immer nur eine Idee, in der Realität bin ich aber in Beziehung.

Deshalb kann der erste Schritt auf einem wirklichen Denkweg nur aus der Beziehung zum Etwas entstehen. Wie wir dann dieses Etwas oder den Anderen nennen, hängt von unserer jeweiligen Auffassung ab. Im allgemeinen benannt Universum, All, Gott, oder spezifisch mit Namen wie: Allah, Shiva, oder einfach OM. Das wesentliche ist die Erkenntnis, dass ich meine Kraft aus diesem jeweiligen Anderen schöpfen kann, ja von irgendwoher auch schöpfen muss, ansonsten verliere ich mich im Unendlichen.

Die Beziehung hat grundsätzliche Bedeutung sowohl bei der Dialogik wie auch bei der Dialektik. Die beiden unterscheiden sich aber voneinander wesentlich durch das “Wie”, die Art und Weise, wie die Beziehung zwischen den Parteien abläuft. Bei der Dialektik kommt es auf die Überzeugung des Gegners über die eigene Wahrheit und das Aufheben des Anderen in die eigene Identität. Die Dialogik lässt den Anderen in seiner Anderssein bestehen als Quelle der Erfahrung und des Lernens vom Neuen und Einzigartigen, im Bewusstsein der Aufeinanderangewiesenheit.

Im europäischen Denken hat dieses Bewusstsein nicht seine selbstverständliche Entwicklung. Es kann nicht gesagt werden das dieses Erkenntnis am Ende vom intellektuell -denkerischen Überlegungen als Ergebnis steht. Umgekehrt ist der Fall, nämlich das Denken des europäischen Idealismus erreichte seine eigene Grenze und es wird von der Realität zum Kurswechsel gezwungen; etwas zu sehen, oder noch besser, wieder zu sehen, was ja schon immer da gewesen war, nur im Treiben der Dialektik der Gegensätze nicht mehr empfunden werden konnte.

Entscheidenden Einfluss auf den jetzigen Zustand der philosophischen Erkenntnis des “neuen Denkens”, haben drei Denker ausgeübt. In der Anlehnung an ihre Werke, wird in der vorliegenden Arbeit die These zu begründen versucht dass:
Die Dialektik in unseren Gegenwart die Grenze ihrer Anwendbarkeit erreicht hat. Die Dialogik hat sich nun wieder in der Grenzsituation zeigen können und weist den Weg von dort heraus. Da es ein weitertreiben der dialektischen Gegensätze gefährdet das Dasein überhaupt, ist es notwendig die Dialogik, die im allgemeinen mit der Dialektik verwechselt, ja oft gleichgesetzt wird, zu unterscheiden.

Bei Hegel hat sich die Grenze und das Ende der dialektischen Überzeugungskunst in Gegensätzen gezeigt.
Rosenzweig hat dieses Ende erkannt und den dialogischen Weg aus der verstockten Situation des Denkens gewiesen.
Heidegger hat die aufgestauten Hürden denkerisch abgetragen, indem er die Gegenständlichkeit des Gegenstandes in den Landschaften “ent-gegen-ständlichte” und damit den Weg in die freie Weite eröffnete.