Zum Thema "Sozialnotversicherung" komme ich weiter unten. Zunächst muß ich etwas ausholen:

Gestern abend war ich in Bremerhaven auf einer gelungenen Veranstaltung zum Thema Bedingungsloses Grundeinkommen. Diesmal war der Organisationsrahmen nicht die Piratenpartei oder ein Götz-Werner-Lesekreis (beides gibt's z.B. in Bremen), sondern ich interessierte mich als Mitglied des Netzwerks Grundeinkommen für den Stand der diesbezüglichen Diskussion bei den Linken. Deren öffentliche Mitgliederversammlung zu diesem Thema mit eingeladenem Bremer Besuch aus deren Bundesarbeitsgruppe Grundeinkommen lockte mich nach Bremerhaven.

Die Diskussion verlief genau so, wie ich alle solchen Veranstaltungen bisher erlebt habe, die sich vorranging an Themeneinsteiger wenden. Die ersten Reaktionen sind: Was? Reiche sollen das auch kriegen? Ungerecht! Wie, so viel? Dann geht ja gar keiner mehr arbeiten! Und wie soll das denn jemals finanziert werden? Und überhaupt ist das doch utopisch, d.h. das kann doch niemand ernst nehmen! Nach etwas Aufklärung legt sich die anfängliche Abwehrreaktion dann und es bilden sich zwei Gruppen. Die eine kann sich vom momentanen Arbeitsbegriff gedanklich noch nicht so schnell lösen (Erwerbsarbeit alleine sei doch sinn- und identitätsstiftend!) oder sieht seine eigene Existenz gefährdet (wer braucht noch Gewerkschafter, wenn es keine geknechteten Arbeitnehmer mehr gibt?), und die andere findet das Grundeinkommen sofort gut.

Daß ein bedingungsloses Grundeinkommen auch problemlos finanzierbar ist, sahen alle schnell ein. Schließlich ist die Leistung weitestgehend substitutiv (sie ersetzt andere Leistungen wie Kindergeld, Hartz 4, usw.), macht zudem einen riesigen Verwaltungs- und Kontrollapparat überflüssig und wird darüberhinaus kompensiert durch Steuerveränderungen wie z.B. eine progressivere Einkommensteuerkurve, wegfallende Steuervergünstigungen, Einführung von Spekulations- und Kapitaltransfersteuern, Erhöhung von Vermögens- oder Konsumsteuern und anderen Maßnahmen. Hier gibt es sicher viel auszugestalten, ist aber für die Grundsatzdiskussion irrelevant. Auch in dieser Gruppe wurde das schnell so gesehen.

Auch die berechtigte Anmerkung, daß sich die gesellschafts- und sozialpolitische Wirkung eines Grundeinkommens immer erst im Zusammenspiel mit anderen Instrumenten wie Arbeitsrecht (Mindestlohn, Arbeitszeitbegrenzung), Krankenversicherung und Infrastruktur (Energieversorgung, ÖPNV, Medienzugang, usw.) ergibt, wurde hervorgebracht, d.h. die Argumentation verlagerte sich von der Ebene der Argumente auf die Ebene der Motive. Je nach Modell kann sich die Prekarisierung der Arbeit beschleunigen (weil dann das Grundeinkommen die Arbeitgeber subventioniert und die Arbeitnehmer entrechtet) oder, im anderen Extrem, kann sich die gesellschaftlich notwendige Arbeit im positiven Sinne neu verteilen.

Mein Beitrag zu der Diskussion war, genau diesen Punkt zu verdeutlichen, also daß die Ebene der Argumente und die Ebene der Motive gedanklich getrennt werden sollten. Im Hinterkopf hatte ich den Grundeinkommen-Artikel "Gleiches Geld für alle", der kürzlich auf Spiegel Online (SPON) erschienen war. Autor war Thomas Straubhaar vom Hamburgischen Weltwirtschaftsinstitut. Das Hohenleitner/Straubhaar-Modell "Bedingungsloses Grundeinkommen" wurde von einem Diskurspapier der Friedrich-Ebert-Stiftung als "neoliberales Grundeinkommensmodell" klassifiziert (selbst das "Solidarisches Bürgergeld"-Modell des CDU-Politikers Althaus gilt in jener Studie als "sozialliberales Grundeinkommensmodell"!), und das war dem SPON-Artikel auch deutlich anzumerken. Er enthielt Sätze wie "niedriges Grundeinkommen und niedrige Steuersätze verstärken den Anreiz zu arbeiten", was darauf hindeutet, daß das Grundeinkommen hier als Instrument in einem aktivierenden Sozialstaat gedacht ist. Der Arbeitszwang soll also erhöht werden. Für mich ist das ein extrem niederes Motiv.

Emanzipatorische Grundeinkommensmodelle wie das der Linken wollen keinen solchen aktivierenden Sozialstaat (mit der Freiheit einer Erwerbsarbeit nachzugehen, ohne die Freiheit, es lassen zu können), sondern einen versorgenden Sozialstaat, d.h. der Anspruch ist, der Freiheit, einer Erwerbsarbeit nachgehen zu können, einen dauerhaften Freiwilligkeitsanspruch hinzuzufügen, also den Defacto-Zwang zur Arbeit ganz und nachhaltig abzuschaffen. Der Nutzen eines Grundeinkommens wird in emanzipatorischen Modellen darin gesehen, daß die gesellschaftlich notwendige Arbeit dann selbstbestimmt durchgeführt werden kann und so am Ende viel effektiver ist. Auch das Netzwerk Grundeinkommen vertritt und promotet solche sozial-egalitär bis emanzipatorischen Grundeinkommensmodelle (z.B. das der KAB -- eine solche Veranstaltung habe ich in Bremen erlebt), und selbst die Piratenpartei (zumindest im LV Bremen), die noch keine konkreten Modelle vertritt, diskutiert nach meiner Beobachtung (ich bin selbst Mitglied) ausschließlich innerhalb dieser Modellklasse.

Es saßen, wie es in einer Mitgliederversammlung der ideologisch bekanntlich sehr heterogen und breit gefächert aufgestellten Linken zu erwarten ist, auch ein paar Leute aus der rückwärtsgewandten Ecke in der Runde, die "erstmal alle Produktionsmittel verstaatlichen" (also alle Menschen enteignen) und "Unternehmer generell als Ausbeuter ächten" (also aktive Menschen fortjagen), sowie "Sozialismus weltweit als Gesellschaftsform und Wirtschaftssytem einführen" wollen. Aber die Mehrheit der Anwesenden waren Menschen aus der vorwärtsgewandten Ecke, die eher eine solidarische Moderne anstreben, also die im Rahmen der bestehenden gesellschaftlichen Ordnung und des bestehenden Wirtschaftssystems die betriebliche Mitbestimmung von Erwerbstätigen, sowie die Anerkennung von Nichterwerbsarbeit verbessern wollten.

Mein Argument für die Befürwortung der Forderung nach einem emanzipatorischen Bedingungslosen Grundeinkommen ist, daß wir als Gesellschaft eine solche Utopie denken lernen müssen, um in der Realität in die richtige Richtung schreiten zu können. Eine Politik, die 1. die Position der Erwerbstätigen stärkt und 2. zugleich die Anerkennung von Nichterwerbsarbeit verbessert, sowie 3. die Wahlmöglichkeit zwischen Erwerbs- und Nichterwerbs- (oder Teilzeit-)Modellen für alle bereitstellt, ist ohne das Instrument des Bedingungslosen Grundeinkommens undenkbar. Außerdem entbehren Dinge wie Bedürftigkeitssprüfung und Bedarfsgemeinschaft ohnehin jeder ethischen Grundlage. Anders gesagt: So wie es jetzt ist, kann es unter keinen Umständen bleiben. Und Alternativen ohne Grundeinkommen gibt es nicht.

In der Diskussionsrunde gestern abend saßen auch die beiden Bürgerschaftsabgeordneten, die Bremerhavens Linke nach Bremen schickt. Diese beiden waren am Ende nicht überzeugt. Sie haben den Kopf voll mit politischem Tagesgeschäft, und das Thema Grundeinkommen hilft ihnen dabei nicht. Ich kann das verstehen. Aber vielleicht sollten sich die beiden mal den Text durchlesen, der ebenfalls gestern in der FAZ erschienen ist. Der Soziologieprofessor Gunnar Heinsohn von der Universtät Bremen schreibt darin: "Während deutsche Frauen außerhalb von Hartz IV im Durchschnitt nur ein Kind haben und leistungsstarke Migrantinnen sich diesem Reproduktionsmuster nähern, vermehrt sich die vom Sozialstaat unterstützte Unterschicht stärker - mit allen Folgeproblemen. So sind in der Hartz-IV-Musterkommune Bremerhaven die Jungen in Sozialhilfe mit einem Anteil von rund 40 Prozent an der männlichen Jugend für mehr als 90 Prozent der Gewaltkriminalität verantwortlich. Solange die Regierung das Recht auf Kinder als Recht auf beliebig viel öffentlich zu finanzierenden Nachwuchs auslegt, werden Frauen der Unterschicht ihre Schwangerschaften als Kapital ansehen. Allein eine Reform hin zu einer Sozialnotversicherung mit einer Begrenzung der Auszahlungen auf fünf Jahre statt lebenslanger Alimentierung würde wirken"

Wollen wir wirklich warten, bis so eine "Sozialnotversicherung mit einer Begrenzung der Auszahlungen auf fünf Jahre" kommt? (Siehe dazu "Das unwerte Hartz IV-Leben" in Telepolis.) Eine breitere Grundeinkommen-Diskussion würde sich dieser Sozialeugenik-Debatte unmittelbar entgegenstellen. Sie wird aktuell immer wieder aufgegriffen, erst durch Sarrazin (siehe im Klassizismus-Blog), dann durch Westerwelle (siehe der Freitag) und jetzt durch Heinsohn. Und weil die Medien darüber berichten, setzt sich dieses Gedankengut zunehmend fest. Allein deswegen muß auch das Grundeinkommen in die Medien. Und wiederum deswegen muß es in die Parteiprogramme.

Im Abgeordnetenbüro der Linken in der "Hartz-IV-Musterkommune Bremerhaven" gab es dazu gestern die hier von mir dargestellte Aktivität. Gut so. Und weiter so.