Es ist Wahlkampfzeit. Einige Parteien, allen voran die SPD, versprechen gerade mal wieder, direkt nach der Wahl massenhaft neue Arbeitplätze schaffen zu wollen und in wenigen Jahren Vollbeschäftigung erreichen zu können – wenn man sie denn läßt. Also müsse man sie wählen.

Vollbeschäftigung also. Aha. Ich sage: Volksverdummung.

Denn Vollbeschäftigung ist doch, wenn alle Erwerbsfähigen jenseits der Sockelarbeitslosigkeit einen Arbeitsplatz haben. Das klingt irgendwie gut und erstrebenswert, dennoch drängen sich mir sofort etliche Fragen auf:

  • Was heißt das eigentlich genau? Wer ist “erwerbsfähig”? Und was ist mit den anderen? Wie hoch darf die “Sockelarbeitslosigkeit” sein? Und was ist mit denen im Sockel?
  • Und von was für Arbeit ist eigentlich die Rede? Ist sie sinnstiftend? Ist sie existenzsichernd? Ist sie perspektivisch?
  • Und was heißt Vollbeschäftigung volkswirtschaftlich? Ist Vollbeschäftigung ökonomisch überhaupt sinnvoll?
  • Und wie ist der Stellenwert unbezahlter Arbeit? Welche Leistungen tragen wirklich Kultur und Gesellschaft?

Im Grunde sind diese Fragen beantwortet: Erwerbsfähig ist, wer ein bestimmtes Alter hat und gesund ist. Sockelarbeitslos sind die sich gerade beruflich Neuorientierenden oder Weiterbildenden. Jene, wie auch die Nicht-Erwerbsfähigen, müssen erst ihr Vermögen aufbrauchen, dann das ihrer Angehörigen, und am Ende springt der Staat mit einer bedarfsorientierten Grundsicherung ein. Ob eine Arbeit sinnstiftend oder perspektivisch ist, dafür ist der Arbeitnehmer selbst verantwortlich. Vollbeschäftigung ist volkswirtschaftlich sinnvoll, weil erstens der Staat Arbeit besteuert (Einnahmen) und Arbeitslosigkeit finanziert (Ausgaben) und zweitens der Bürger den Konsum von seinem Gehalt bestreitet. Der Stellenwert unbezahlter Arbeit in der Gesellschaft liegt außerhalb dieses Systems.

So weit, so gut. Nur eine Frage fehlt:

  • Ist Vollbeschäftigung überhaupt möglich?

Und hier lautet die Antwort ganz klar: nein. Sie ist völlig unmöglich. In der Güterproduktion nicht, weil der Gütermangel der Nachkriegszeit überwunden ist, und im Dienstleistungssektor nicht, weil der Produktivitätszuwachs in der Warenproduktion die Arbeit am Menschen im Verhältnis so verteuert, daß sie auch im Niedriglohnsektor zunehmend unbezahlbar wird, weil dort keine entsprechenden Produktivitätssteigerungen möglich sind.

Nochmal konkreter: Wir leben nicht mehr in einer Mangelwirtschaft, in der nicht ausreichende Güterproduktion das Problem ist, sondern in einer Überflußgesellschaft, in deren Abschwungzeiten der Warenkonsum nicht ausreicht. Selbst die Massenvernichtung von Arbeitsplätzen in der Produktionsindustrie führt nicht zu knappheitsbedingter Inflation. Bei langlebigen Konsumgütern sind die Märkte stark übersättigt, weswegen zunehmend kurzlebigere Güter entstehen, die dann auch produktiver, also mit weniger Personalaufwand hergestellt werden. Die Innovations- und Lebenszyklen der Produkte werden kürzer, um den Konsum zu beschleunigen, zugleich werden die Arbeitsplätze in der Herstellung abgebaut. Der Produktivitätsfortschritt ist im Mittel größer als das Wirtschaftswachstum, d.h. es gibt einen dauerhaft sinkenden Bedarf an menschlicher Arbeitsleistung in der Produktion. Selbst in Hochkonjunkturphasen bleibt die Wachstumsrate unter der Beschäftigungsschwelle (der Rate, ab der neue Arbeitsplätze enstehen). Die Beschäftigungsquoten können somit nur immer weiter sinken.

Fazit: Es ist systemimmanent, daß immer mehr Erwerbsfähige am Arbeitsmarkt nicht vermittelbar sein werden, und daß der sog. “1. Arbeitsmarkt” überproportional weiter schrumpfen wird, d.h. sich Arbeit und Einkommen immer mehr entkoppeln wird. Insofern sollte man auch die Begrifflichkeiten Arbeitsplatz und Einkommensplatz entkoppeln, um überhaupt noch sinnvoll über die Dinge sprechen zu können:

  • Ein Einkommensplatz ist verbunden mit einem regelmäßigen Geldeingang in einer Höhe, die für kulturelle Teilhabe an der Gesellschaft ausreichend ist, sowie der Gewißheit, daß dieser Geldeingang unter normalen Voraussetzungen dauerhaft bestehen bleibt. Ein Einkommensplatz liefert also ein gesichertes Einkommen zur eigenen Verwendung.
  • Ein Arbeitsplatz ist gekoppelt mit einer Anwesenheitspflicht an bestimmten Orten zu bestimmten Zeiten, sowie einer Weisungsgebundenheit. Ein Arbeitsplatz versorgt einen also mit ungesicherter fremdbestimmter Arbeit.

Beispiele für einen Einkommensplatz sind

  • Kapitalvermögen inkl. Immobilien, Aktien, Rechtsansprüchen (Einnahmen aus Mieten, Renten, Zinsen, Dividenden)
  • Ein klassischer „sozialversicherungspflichtiger“ Vollzeit-Arbeitsplatz am „1. Arbeitsmarkt“ mit hohem Gehalt, Festanstellung und gesetzlichem Kündigungsschutz

Die klassische Stategie zur eigenen Existenzsicherung ist sich Letzteres (“Erwerbsarbeit”) zu beschaffen und daraus Ersteres (Kapital) als Rücklagen für den „Ruhestand“ zu bilden. Traditionell gehört außerdem dazu, Angehörige aus diesen Mitteln zu „versorgen“, die für einen die unbezahlte Familien- und Gemeinschaftsarbeit übernehmen, zu der der Versorger keine Zeit hat (Kindererziehung, Altenbetreuung, Haushalt, Soziales, Ehrenämter). Hier ist die Position in der Familie ein Einkommensplatz.

Mal abgesehen davon, daß eine solche Rollenteilung heute nicht mehr den gesellschaftlichen Realitäten entspricht, fallen wie gesagt für die “Versorger” irreversibel immer mehr Arbeitsplätze weg, die auch Einkommensplätze sind. Dadurch verlieren auch Nicht-Erwerbstätige ihr Einkommen – und ihre bisherige Arbeit, denn sie müssen nun in den Erwerbsarbeitsmarkt drängen (was diesen zudem noch weiter belastet). Mit welchen Maßnahmen auch immer man die entstehende Massenarbeitslosigkeit zurückzudrängen versucht – es wird das Problem der wachsenden Massenerwerbslosigkeit nicht ent-, sondern verschärfen.

Der Charme, den das Wahlkampf-Werbeversprechen “Bekämpfung von Arbeitslosigkeit” hat, entstammt der Assoziation von “Vollbeschäftigung” mit “Einkommen für alle”. Genau das Thema, also “Einkommen für alle” wird in “Hartz 4"-artigen Systemen aber gar nicht adressiert, sondern es wird genau im Gegenteil systematisch ein stark wachsender Bevölkerungsteil aufgebaut, dem jede Chance auf Teilhabe an der Gesellschaft, also auf Bildung, Kultur, Konsum, sinnstiftende Arbeit und Lebensperspektive dauerhaft und nachhaltig verwehrt wird. Eine Generation ungebildeter chancenloser junger Menschen wächst nach.

Ein genauso großes Problem ist, daß es die Menschen, die noch eine existenzsichernde Arbeit haben, erpreßbar macht. Arbeitszeiten werden sich verlängern, Arbeitsbedingungen verschlechtern. Der Verdrängungswettbewerb produziert überarbeitete “Leistungsträger”, sie sich selber ruinieren und letztendlich der Illusion erliegen, sie seien die “Wertschöpfer” der Gesellschaft, die all die “Schmarotzer” finanzieren. Am Ende beneidet jeder jeden, ohne zu merken, daß alle auf die eine oder andere Weise Opfer eines menschenverachtenden Systems geworden sind.

Dabei gibt es zwei Auswege aus dem Dilemma. Einen, der nicht funktionieren kann, und einen, der noch nie probiert wurde, weil die Situation der postindustriellen Überflußgesellschaft eben neu ist:

  • Der eine Ausweg ist der Rückbau des wirtschaftlichen Fortschritts, also das Senken der Produktionsproduktivität, die Wiedereinführung des Gütermangels, und die Rückkehr zur Planwirtschaft, die die zur Bekämpfung des Mangels erforderliche menschliche Arbeit bei staatlich verordneten Einkommen verteilt. In einer globalisierten Welt ist ein solcher Weg selbstzerstörerisch. “Mindestlohn” ist das Einstiegs-Stichwort in diesen Weg. “Mindesteinkommen” soll es suggerieren, aber Zwangsarbeit ist gemeint.
  • Der andere Ausweg ist der, den momentan offenbar weder die eingebildeten “Leistungsträger” noch die sogenannten “Schmarotzer” zu denken in der Lage sind, obwohl der die Probleme beider völlig wegwischen würde: Das bedingungslose Grundeinkommen (BGE). Statt eines sozialistischen “Grundrechts auf Arbeit” ein realistisches Grundrecht auf Einkommen. Es ersetzt nicht die Erwerbsarbeit. Aber es ersetzt die bedarfsorientierte Grundsicherung (BGS). Es wird ohne Bedingung an alle gezahlt und deckt das Kulturminimum (das weit über dem Existenzminimum liegt) ab.

Um das BGE zu verstehen, ist es hilfreich, die Antworten auf die eingangs gestellten Fragen anzupassen:

  • Erwerbsfähig ist, wer ein bestimmtes Alter hat und gesund ist. Sockelarbeitslos sind die sich gerade beruflich Neuorientierenden oder Weiterbildenden. Dies bleibt so. Die Menschen werden nach wie vor für zusätzliches Einkommen arbeiten wollen. Sie sind nur weniger erpreßbar, weil sie bei Kündigung nur ein Teil ihres Gehalts verlieren würden. Die Arbeitsbedingungen werden somit besser.
  • Jene, wie auch die Nicht-Erwerbsfähigen, müssen erst ihr Vermögen aufbrauchen, dann das ihrer Angehörigen, und am Ende springt der Staat mit einer bedarfsorientierten Grundsicherung ein. Dies entfällt völlig. Wer keine Erwerbsarbeit hat, muß nur auf Luxus verzichten und sein Vermögen oder das Angehöriger nicht antasten. Staatliche Bedarfsprüfungen gibt es nicht mehr. Unterbrechungen von Erwerbsarbeit werden unbestraft möglich.
  • Ob eine Arbeit sinnstiftend oder perspektivisch ist, dafür ist der Arbeitnehmer selbst verantwortlich. Dies bleibt so. Allerdings hat der Arbeitnehmer mit dem BGE drastisch erhöhte Chancen, das wirklich zu erreichen, denn er kann sich bei Bedarf gefahrlos sinnstiftendere oder erfüllendere andere Arbeit suchen, bzw. eine Karriere planen, weil seine Existenz nicht mehr an den bestehenden Arbeitsplatz gekoppelt ist.
  • Vollbeschäftigung ist volkswirtschaftlich sinnvoll, weil erstens der Staat Arbeit besteuert (Einnahmen) und Arbeitslosigkeit finanziert (Ausgaben) und zweitens der Bürger den Konsum von seinem Gehalt bestreitet. Hier ändert sich was. Der Bürger hat erheblich mehr Konsumkraft, der Staat drastisch weniger Einnahmen und mehr Ausgaben. Er muß also den Konsum deutlich stärker besteuern (die Mehrwertsteuer erhöhen). Daß dies Menschen, die besonders viel konsumieren, entsprechend besonders stark trifft, macht es auch sozial gerechter, denn mit dem BGE wird die Mehrwertsteuer zu einer Reichensteuer, nur eben auf Konsum statt auf Kapital, also eine Steuer, die ökonomisch sinnvoller erst am Ende der Wertschöpfungskette ansetzt (und somit außerdem auch niemanden zu Kapitalflucht anhält).
  • Der Stellenwert unbezahlter Arbeit in der Gesellschaft liegt außerhalb dieses Systems. Dies ist nun anders. Das bedingungslose Grundeinkommen zahlt der Staat, damit jeder auch unbezahlte Arbeit leisten kann. Jede Tätigkeit für Kultur und Gemeinschaft wird damit anerkannt. Arbeit am Menschen, also menschenwürdige soziale Dienste, werden so überhaupt erst möglich.

Bedeuten würde die Einführung des BGE also folgendes: Jede Arbeit ist anerkannt, Arbeitslosigkeit gibt es nicht mehr. Zusätzliche Erwerbsarbeit ist leichter und zu besseren Bedingungen zu kriegen. Die Finanzierung des BGE ist durch Wegfall der BGS und die höhere Konsumbesteuerung nicht nur gesichert, sondern auch von viel höherer sozialer Gerechtigkeit. Das Unternehmertum wird deutlich gefördert, da die Lohnnebenkosten drastisch sinken. Die Dienstleistungsgesellschaft des postindustriellen Zeitalters wird möglich, die Bildungschancen der von Hartz 4 produzierten “Unterschicht” dramatisch erhöht. Auch die Außenhandelsbilanz verbessert sich, weil die Produktionskosten im internationalen Wettbewerb sinken.

Natürlich muß das BGE schrittweise eingeführt werden, weil sonst erst einmal alle Urlaub machen, und weil Begleitmaßnahmen u.a. im Bildungs- und Sozialbereich erforderlich sind, die erst entwickelt werden müssen. Aber das BGE soll auch nicht der Schwerpunkt dieses Beitrags sein. Meine Motivation, dies zu schreiben, sind wie eingangs erwähnt die aktuell wieder überall gehörten Wahlkampfthemen “Vollbeschäftigung” und “Mindestlohn”. Parteien, die diese Schlagworte propagieren, weil sie Einkommen für alle suggerieren, lehnen das bedingungslose Grundeinkommen in der Regel ab – allen voran die SPD. Dabei sind Vollbeschäftigung und Mindesteinkommen nur mit dem BGE überhaupt möglich.

Eben deswegen sage ich: Volksverdummung.

(offline im Urlaub geschrieben am 2009-08-07 von rumpel=@nnz)