IV.

Der Kaffee war deutlich stärker als gewohnt, und damit genau das, was Delamotte brauchte. Der Blick auf den Wecker hatte ihn zwar konsterniert, aber nicht wirklich wachgemacht, so wie das üblicherweise geschah, wenn er verschlafen hatte. Langsam, fast schon übermäßig vorsichtig hatte er sich auf den Weg in die Küche gemacht. Seine eigene Wohnung kam ihm fremd vor, und das lag sicherlich nicht daran, dass er erst knapp zwei Wochen dort wohnte.
Immerhin hatte er es geschafft, sich ein paar Brote zu schmieren, ohne sich dabei zu schneiden. Kopfschmerzen hatte er keine, aber seine Erinnerung bestand überwiegend aus Gedankenfetzen. Er war bei Peschs Geburtstagsfeier gewesen, soviel war klar; und er hatte mit Pesch über das Profil gesprochen, und später – viel später – hatten sie am Küchentisch gesessen und philosophiert. Marino war hinzugekommen, hatte etwas gesagt von wegen „ziemlich beste Freunde“. Und in der Tat lösten die Fragmente, die Delamotte vom Rest des Abends noch im Kopf hatte, durchaus freundschaftliche Gefühle in ihm aus.
Er erinnerte sich an Rotwein, in einer Flasche mit orangem Etikett. Pesch hatte von seinem Faible für Italien erzählt, und zu Marinos und Delamottes Überraschung hatte er ein paar Sätze Italienisch gesprochen – laut Marino gar nicht mal schlecht. Und dann, als der Rotwein geleert war, hatte er den beiden seinen Weinkeller gezeigt. Und sie waren mit einem Weißwein wieder hochgekommen. Mit einem Riesling. Wirklich mit einem Riesling? Doch, Delamotte nickte, er erinnerte sich an einen edelsüßen Riesling. Und er erinnerte sich an den Namen auf dem Etikett – einen ziemlich bekannten Namen; eines der wenigen Weingüter, die Besitz am Scharzhofberg hatten. Delamotte stutzte. Konnte das sein? Hatte Pesch wirklich einen edelsüßen Riesling vom Scharzhofberg aufgemacht? Und noch eine Frage bohrte in Delamottes Kopf: wie zum Teufel war er nachhause gekommen?

Die Heftigkeit, mit der die Regentropfen auf Dach und Windschutzscheibe des Xsara prasselten, überraschte Delamotte. Das regnerische Wetter passte so gar nicht zu seiner Stimmung, obschon er nicht ausschließen konnte, dass diese Stimmung auch mit einem gewissen Maß an Restalkohol zu tun haben konnte. Aber das war es eben nicht allein.
Seit Sonja ihn verlassen hatte, war ihm die ganze Welt überwiegend trüb und dunkel vorgekommen. Er hatte seine Berufswahl für das Scheitern der Beziehung verantwortlich gemacht, und damit letztlich sich selbst. Die Unzufriedenheit mit seiner Stellung am Berliner Platz – als Außenseiter, dessen Talente nur in bestimmten Situationen geschätzt wurden – tat das Ihrige dazu. Und vielleicht entsprangen diese Talente ja wirklich einer dunklen Seite seiner selbst, wie Sonja immer wieder behauptet hatte.
Die letzten Tage allerdings hatten diese trübe Stimmung vertrieben wie ein kräftiger Frühlingswind, der die Wolken des Spätwinters wegschob. Seine Talente waren wieder gefragt, und nein er sah nichts Dunkles darin, seinen Beitrag zu leisten, die Menschen dieser Stadt vor einem Mörder zu beschützen. Und sogar mit Pesch hatte er sich in diesen Tagen gut verstanden. Auch wenn er dessen Weltbild nicht teilte, so konnte er doch verstehen, was den Hauptkommissar antrieb. Und er musste sich die Frage stellen, ob er nicht nur seine eigene Situation, sondern auch die Person Hans-Jakob Pesch in den letzten Monaten zu negativ gesehen hatte.
Und dann war da noch der Abend mit Britta Kowallik gewesen, der ihn immer noch beschäftigte. Wobei auch diese Erinnerung keinesfalls unangenehm war. Als sein Wagen auf den Parkplatz am Berliner Platz einfuhr, verspürte Delamotte fast so etwas wie Vorfreude.

„Hallo, Markus.“ Henseler kam aus Richtung der Cafeteria, ein Sandwich in der linken und eine Cola in der rechten Hand. Delamotte hatte ihn glatt übersehen.
„Hallo, Niclas“, erwiderte er den Gruß, „wie war dein Osterwochenende?“
„Ganz gut“, sagte der junge Kommissar, „aber wie es aussieht habe ich das Beste wohl gestern Abend verpasst.“
Delamotte war etwas ratlos: „Was meinst du damit?“
Ein schelmisches Grinsen erschien auf Henselers Gesicht: „Na, du siehst mindestens genau so fertig aus wie Pesch, und Marino hat sich krankgemeldet. Muss also eine ziemliche Party gewesen sein.“

In der Tat wirkte Pesch reichlich mitgenommen, wie er so hinter seinem Schreibtisch saß, vor sich eine große Thermoskanne und eine ebenfalls überdimensionierte Tasse mit dampfendem Inhalt, dessen Geruch entfernt an Kaffee erinnerte. Wobei es Delamotte durchaus klar war, dass er selber auf einen Beobachter auch nicht gerade den Eindruck blühenden Lebens machen konnte; zumindest hatte er noch genug Geistespräsenz zu bemerken, dass er Pesch erstmalig ohne Krawatte im Präsidium antraf.
Der Hauptkommissar blickte von seiner Lektüre auf: „Ach, Markus, grüß dich. Donnerwetter, du bist ja ziemlich hart im Nehmen.“ Er zwinkerte: „Auf jeden Fall härter als Marino…“
Delamotte nickte ihm zu: „Hart im Vertragen größerer Mengen Alkohols, wolltest du vielleicht sagen. Wobei beide Formulierungen durchaus als Kompliment verstanden werden können – ich für meinen Teil halte es so, und gebe dir das Kompliment gerne zurück.“
Er erkannte, dass Pesch das Profil des Uhus vor sich liegen hatte, und ergänzte: „Und du bist offenkundig der Härteste von uns allen, wenn du dich nach so einem Abend an derart trockene Lektüre wagst.“
„Na, dafür war der Abend ja auch feucht genug“, antwortete Pesch, „und vielleicht habe ich ja sogar deine Aversion gegen Riesling ein wenig anknacksen können.“
Delamotte stimmte zu: „Der Wein war fantastisch, und sicherlich auch ziemlich teuer, oder? Habe ich das richtig in Erinnerung? War der wirklich vom Scharzhofberg?“
Pesch wirkte erst etwas verblüfft, und ließ dann sein donnerndes Lachen in einer Lautstärke erschallen, die Delamotte schmerzhaft daran erinnerte, dass sein Zustand nicht der allerbeste war.
„Auch wenn das Weingut am Scharzhofberg vertreten ist“, sagte Pesch, „die haben auch andere Lagen. Und so üppig sind die Bezüge eines Hauptkommissars dann auch nicht.“ Er schüttelte amüsiert den Kopf: „Scharzhofberg… Ich bringe dir mal deren Prospekt mit, die haben durchaus bezahlbare Trockenbeerenauslesen von anderen Lagen.“
Er bat Delamotte, Platz zu nehmen, und wies auf das Profil hin: „Ich bin gut zur Hälfte durch und habe mir ein paar Fragen notiert…“
„Dann schieß los“, erwiderte der Psychologe.
Zu Delamottes Überraschung wollte Pesch nichts zu den praktischen Schlussfolgerungen wissen, die Delamotte im Stil einer Management Summary an den Beginn des Profils gestellt hatte. Was den Hauptkommissar interessierte, war das Zusammenspiel aus zwanghafter Selbstkontrolle und dem sich wiederholenden Verlust derselben: „Was meinst du mit diesen impulsiven Aktionen, auf die eine Reaktion erfolgt, die dann wiederum einiges im Uhu auslöst?“
Delamotte brauchte etwas Zeit für die Antwort, und fast wünschte er sich ein Glas Wein, sei es als Quelle der Inspiration oder einfach um sich daran festzuhalten.
„Ich muss dir wohl kaum erklären“, begann er, „dass der Uhu nicht ganz sauber tickt.“
Pesch nickte, die Andeutung eines Grinsens lag auf seinem Gesicht.
„Aber wenn er dir hier gegenüber säße“, fuhr Delamotte fort, „so wie ich jetzt, oder wenn er mir gegenüber säße wie du.“ Nun grinste der Psychologe: „Weder du noch ich würden merken, dass mit ihm was nicht stimmt.“
„Weil er sich meistens unter Kontrolle hat“, warf Pesch ein.
Delamotte stimmte zu: „Weil er sich ganz bewusst unter Kontrolle hält.“
Seine Augen schienen einen unbestimmten Punkt zu fixieren, ganz weit entfernt: „Natürlich hat er irgendwann in seinem Leben gemerkt, dass mit ihm etwas nicht stimmt. Etwas, das er besser verbirgt. Eine Form von sozialer Disfunktionalität, nichts was sofort auffällt. Engen Bekannten und Freunden wird es nach einiger Zeit auffallen – daher wird er nicht allzu viele Freunde haben.“
Er stockte kurz; oberflächlich passte der letzte Punkt auch ein wenig auf ihn selbst.
„Am ehesten würde es einer Partnerin oder einem Partner auffallen“, spann er den Gedanken fort.
„Ich dachte, er wäre Single“, warf Pesch ein.
„Jetzt ist er das bestimmt, schon seit einigen Jahren“, erwiderte Delamotte, „aber das heißt nicht, dass er es nicht mal mit einer Partnerschaft versucht hat.“ Er ergänzte bekräftigend: „Ganz im Gegenteil: er hat es bestimmt mal versucht. Ich denke, ein wesentlicher Teil seines Lebens hat daraus bestanden, sich in eine vermeintliche Normalität zu flüchten.“
Pesch blickte ihn an: „Also quasi in eine gezwungene Normalität.“
Delamotte stimmte ihm zu: „Absolut zwanghaft, ja – aber eine gewisse Zeit lang funktioniert diese Normalität, bis dann doch wieder etwas aus ihm ausbricht. In belastenden Situationen, aus Überforderung, aus Stress. Und was dann aus ihm ausbricht, führt natürlich zu Reaktionen seiner Umwelt.“
Er hatte Peschs volle Aufmerksamkeit. „Und diese Reaktionen bewirken allenfalls oberflächliche Verhaltensänderungen beim Uhu – wenn überhaupt“, schloss er seine Analyse ab.
Pesch wirkte sehr nachdenklich, während er sich Kaffee nachgoss und mit einem gehäuften Löffel Zucker süßte.

Am späteren Nachmittag steckte Lüttges seinen Kopf in Peschs Büro.
„Hallo Manni, gibt es was Neues?“, fragte Pesch.
„Vielleicht etwas von der Verkehrspolizei?“, ergänzte Delamotte.
Lüttges wirkte enttäuscht: „Ich habe die Kollegen gerade angerufen – die hatten unsere Anfrage bisher noch gar nicht bemerkt.“
Delamotte verdrehte die Augen, wogegen Pesch nicht sonderlich überrascht schien.
„Na, auf jeden Fall hat mein Hinweis auf den Uhu den Kollegen wohl Beine gemacht. Spätestens morgen früh bekommen wir alles, was sie dort über die ersten drei Opfer haben, “ erklärte Lüttges.

Es war schon dunkel, als Pesch und Delamotte das Präsidium verließen. An der Fußgängerampel, die sie auf dem Weg zum Parkplatz überqueren mussten, fragte Delamotte: „Woher wusstest du eigentlich vom meinem Fremdeln mit Riesling? Habe ich gestern irgendwas angedeutet?“
Pesch antwortete: „Das wusste ich doch schon lange – erinnerst du dich noch an die Eheleute Baltzer?“
Es dauerte einen Moment, bis Delamottes Erinnerung einsetzte. Die Baltzers waren die ersten Opfer einer ziemlich brutalen Einbrecherbande gewesen. Und nachdem sie das ältere Pärchen mit Kabelbindern an die Küchenstühle gefesselt hatten, waren die Täter in aller Ruhe durch das Haus gezogen, um die Wertgegenstände einzusammeln. Im Weinkeller hatten sie sich ebenfalls bedient und einige Flaschen französischen Rotweins geleert, überwiegend Grand Crus.
„Das mit den Bordeaux-Weinen hat dich damals ziemlich geschockt“, erklärte Pesch, „du hast irgendwas von wegen ‚Perlen vor die Säue‘ gemurmelt. Ich habe dich darauf hingewiesen, dass die Baltzers einige deutsche Rieslinge im Keller hatten, deren Preis deutlich höher war. Übrigens auch welche vom Scharzhofberg. Aber richtig überzeugt wirktest du nicht…“
Delamotte nickte; er hatte sich im Nachgang einige theoretische Kenntnisse über Riesling angelesen, aber die Rebsorte in der Praxis weiterhin gemieden.
Als sie an Delamottes Auto ankamen, fiel den Psychologen die Frage ein, die bereits den ganzen Tag in seinem Hinterkopf lauerte. „Sag mal“, sprach er Pesch an, „wie bin ich diese Nacht eigentlich nachhause gekommen?“
Pesch grinste: „Na, mit dem Taxi natürlich. Ich habe für Marino und dich jeweils ein Taxi gerufen. War übrigens gar nicht so einfach um diese Zeit. Aber auf die nächste Straßenbahn hättet ihr noch locker zwei Stunden warten müssen.“
Delamotte nickte Pesch dankbar zu; auf die Lösung hätte er eigentlich auch selber kommen können.

Er hatte lange gegrübelt, bis er sich für eine passende Karteikarte entschieden hatte. Beim Durchblättern des Kastens hatte er einige interessante Exemplare beiseitegelegt. Fünf Stück, um genau zu sein. Es war immer empfehlenswert, genau zu sein. Doch zwei der Karten hatten sich im Rahmen der Recherche am Computer als unbrauchbar erwiesen.
Mit dem Computer hatte er lange Zeit auf Kriegsfuß gestanden; den jüngeren Kollegen war die Umstellung viel leichter gefallen. Welchen Vorteil der Einsatz des Computers brachte, hatte sich ihm erst in jüngster Zeit erschlossen. Solche Mengen an Informationen! Manchmal war ihm das schon zu viel, aber welche Möglichkeiten lagen in diesem Medium! Gerade für eine Aufgabe wie die seine.
Wie bereits erwähnt, hatte er zwei der fünf Karten nach der Recherche zerrissen. Eine der Zielpersonen hatte sich offenkundig aus dem Staub gemacht, ohne verwertbare Spuren zu hinterlassen. Eine andere war vor einigen Monaten verstorben. Also blieben drei, doch bei einer von denen war die Datenlage uneindeutig, was Name und Adresse anging; und er konnte die Möglichkeit nicht ausschließen, dass sich ausgerechnet hinter diesem eher exotisch klingenden Namen nicht doch vielleicht zwei verschiedene Personen verbargen.
Nein, eine Verwechslung aufgrund des Namens wollte er auf keinen Fall in Kauf nehmen. Schließlich war er kein blutrünstiger Mörder.
Er wog die beiden verbliebenen Karteikarten in den Händen hin und her. Fast ein wenig wie Justitia mit ihrer Waage, kam ihm plötzlich in den Sinn, und das ließ ihn lächeln. Linke oder rechte Hand? Rechts oder links? Kurz blickte er auf die beiden Karten, schloss danach die Augen. Ein ziemlich altmodischer Impuls nahm ihm die Entscheidung ab – langsam legte seine rechte Hand die Karte zurück in den Karteikasten, ganz nach vorne, man konnte ja nie wissen.
Konzentriert schaute er sich die Karte in der linken Hand an. Der Nachname klang vertraut – hatte es nicht mal einen hochrangigen Politiker dieses Namens gegeben? Er war sich nicht sicher, aber etwas ließ ihn an die DDR denken. Wobei, wenn er diesen Namen mit der DDR in Verbindung brachte: konnte der Träger des Namens dann nicht eher ein Sportler gewesen sein? Die Sportler der DDR waren doch um einiges erfolgreicher gewesen als ihre Politiker.
Wie dem auch sei – der Gedanke an die DDR weckte seine Erinnerung an jenes verlängerte Wochenende in Berlin, damals, kurz vor Weihnachten 1989. Die ganze Stadt strahlte vor Freude, offiziell war sie noch geteilt aber so ziemlich jedem war klar, dass die Teilung bald Geschichte sein würde. Sogar den Vopos in ihren schlecht sitzenden Uniformen. Die ganze Stadt feierte also; nur er nahm diese ganze Glückseligkeit wie durch Milchglas wahr.
Am Samstagmorgen hatte er nach dem Frühstück noch ein wenig Fernsehen geguckt – vielleicht war da etwas in ihm, das bereits nach dem ersten Abend in Berlin eine Abneigung dagegen verspürte, die Glückseligkeit anderer Menschen zu beobachten. Er hatte also den kleinen Fernseher in seinem Hotelzimmer eingeschaltet. Und die Lokalnachrichten, bei denen er hängen geblieben war, berichteten nach einigen belanglosen Dingen, die ihn nicht betrafen und niemals betreffen würden, von einem tragischen Verkehrsunfall an einem Ort, von dem er nicht mal wusste, ob er zu Westberlin, Ostberlin oder irgendeinem Landstädtchen gehörte. Ausgerechnet an diesem Tag. Ausgerechnet in dieser Stadt. Ausgerechnet mit diesem einen Zuschauer.
Wenig später war er dann doch rausgegangen. Wenn man schon mal in Berlin war, sollte man sich die Stadt doch mal angucken, besonders den Osten, hatte er sich wohl gedacht. Unter den Linden war er durch den leichten Regen gelaufen, hatte dem grauen Wetter getrotzt oder es vielleicht sogar genossen. Er war an der Museumsinsel vorbei gekommen, hatte diesen schrecklichen Alexanderplatz besucht und jenen sogenannten Palast der Republik, den der Volksmund „Erichs Lampenladen“ genannt hatte. Der Gendarmenmarkt hatte ihn dann mit dieser Stadt versöhnt, fast schon war er bereit gewesen, die Stimmung um ihn herum in sich aufzunehmen. Zurück im Westteil, unweit vom Checkpoint Charlie, hatte er sich in ein Café gesetzt.
Und dann hatte ihn wie aus dem Nichts ausgerechnet Krinke angesprochen. Er hatte nie mitbekommen, dass es Krinke nach Berlin verschlagen hatte; und falls Krinke ihm an jenem Tag kurz vor Weihnachten den Grund dafür verraten hatte, dann war ihm dieser Grund schon längst wieder entfallen. Warum hätte er ihn sich auch merken sollen? Er hatte Krinke eh nie leiden können. Ausgerechnet Krinke mit seiner gespielten Freundlichkeit, mit diesem aufgesetzten Lächeln. Und ausgerechnet der war nun genau in diesem Moment in diesem Café aufgetaucht und hatte ihn natürlich erkannt. Und genauso natürlich hatte er nach Malin und den Jungs gefragt. Nach kurzem Zögern hatte er Krinke dann die traurige Geschichte erzählt. Und das Lächeln war aus Krinkes Gesicht verschwunden, stattdessen hatte er dort Bestürzung und so etwas wie Mitgefühl gesehen.
Kurz darauf hatte er sich dann von Krinke verabschiedet, nicht ohne ihm – was auch immer, viel Glück und Erfolg in Berlin oder was man eben so sagte in solchen Situationen – jedenfalls irgendetwas Gutes zu wünschen. Und als er die Glastür des Cafés hinter sich geschlossen hatte, waren ihm Krinkes traurige Augen gefolgt. Glaubte er zumindest.
Später am Abend war ihm klargeworden, dass er den Ausdruck in Krinkes Gesicht gemocht hatte. Vielleicht hatte er den jungen Mann ja immer falsch eingeschätzt. Oder war vielleicht sein Weltbild, sein ganzes Leben gar auf falschen Annahmen aufgebaut gewesen?
Abermals fiel sein Blick auf die Karteikarte. Ob der Name nun identisch war mit dem eines Politikers oder eines Sportlers aus der DDR; oder sonst einer bekannten Persönlichkeit, deren Name sich in seinen Gehirnwindungen eingenistet hatte, vielleicht nicht mal unbedingt aus der DDR. Das war völlig belanglos. Sein Besuch aber in Berlin, damals, kurz vor Weihnachten 1989 – ja, der sollte sein Leben nachhaltig verändern.

Ein leichter Nieselregen befeuchtete die Cestonarostraße, als Delamotte am Morgen des folgenden Tages aus dem Schlafzimmerfenster blickte. Er war am Vorabend zeitig schlafen gegangen, und für die Bettschwere hatte kein Wein gesorgt, sondern eine spezielle Teemischung aus verschiedenen Blüten. Gut ausgeruht und mit gutem Appetit ausgestattet ging Delamotte in die Küche, wo er den Kaffee aufsetzte und sich eine große Portion Rührei mit Schinken und Petersilie machte. Er ging davon aus, dass Marino seinen Kater überwunden hatte und sie alle mit frischer Energie die Suche nach dem Uhu intensivieren konnten.

„Mann, Alter, ich glaube ich trinke nie wieder“, begrüßte Kommissar Claudio Marino seinen Kumpel Delamotte, als dieser knapp zwei Stunden später im Dezernat erschien. Beiden war bewusst, dass diese Aussage keinen Test am Lügendetektor überstehen würde. Für den Moment allerdings, musste sich auch Delamotte eingestehen, lagen in Marinos Worten nicht nur ein paar gute Vorsätze, sondern auch ein Stück Einsicht und fast schon so etwas wie Weisheit. Der Psychologe bemerkte die Augenringe im Gesicht seines Gegenübers ebenso wie den ausgeprägten Bartschatten und die noch wirrer als sonst liegenden Haare. Marinos Körper – genauer gesagt wohl sein Kopf und sein Magen – musste wohl ein ziemliches Martyrium durchgemacht haben.
Auf dem Tisch des Kommissars standen mehrere Aktenordner. „Das ganze Zeug zum Fall Ortner“, erklärte er, „geht heute alles an die Staatsanwaltschaft.“
„Der Gerechtigkeit wird Genüge getan“, sagte Delamotte.
Marino erwiderte: „Der Fall ist verdammt klar, und Hamacher ist ein richtig guter Mann.“
Delamotte konnte diese Einschätzung bestätigen; unter den jüngeren Staatsanwälten schätzte er Hamacher und Ludes als besonders fähig ein.
„Kommt mal rasch rüber zu Manni!“ Pesch hatte seinen rotblonden Schopf durch die Tür gesteckt, und Delamotte bemerkte mit einer gewissen Erleichterung, dass die Welt wieder etwas normaler war – Pesch trug heute wieder eine Krawatte.

Lüttges‘ Büro füllte sich rasch. Seit Charlie Marquardt in Ruhestand gegangen war, hatte der schlaksige Kommissar das Zimmer für sich. Dennoch fühlte sich Delamotte rasch beengt, denn für sieben Leute war der Raum doch etwas knapp. Neben Pesch, Marino und ihm selbst hatten sich auch Maas und Henseler eingefunden, und zu seiner Überraschung auch Stegmayer, der Leiter des Dezernats, den Delamotte schon seit längerem nicht mehr gesehen hatte.
Der Chef sah alt aus, durchfuhr es ihn, das Gesicht noch grauer und müder als gewohnt. Delamottes Blick wanderte zu Marino und danach zu Maas; falls die beiden wirklich mal miteinander verbandelt gewesen sein sollten, dann zeigten sie es nicht.
Pesch ergriff die Initiative – für Delamotte ein weiterer Hinweis darauf, dass wieder Normalität im Team eingekehrt war. „Manni hat neue Informationen“, sagte er.
Lüttges nickte bestätigend: „Die drei früheren Opfer des Uhu waren bei den Kollegen von der Verkehrspolizei keine Unbekannten.“
Marino stupste Delamotte an: „Dein Reden, Alter!“
Der Psychologe widersprach: „Mannis Reden – die Überprüfung war seine Idee.“
Maas blickte ihn freundlich an.
Sötenich, erläuterte Lüttges, hatte mit ausgesprochener Regelmäßigkeit Probleme mit Verkehrsverstößen gehabt, zumeist Tempoübertretungen. Einmal hatte ihm das sogar ein einmonatiges Fahrverbot eingebracht.
Auch der Versicherungsvertreter Fischer war kein unbeschriebenes Blatt, wobei die Masse an Tickets bei ihm fast ausschließlich im Bagatellbereich lag.
Delamotte spürte Peschs Blick und erklärte: „Das kann nicht verwundern. Fischer war beruflich bedingt Vielfahrer, er war auf das Auto angewiesen – und im Gegensatz zu Sötenich arbeitete er allein. Natürlich war er dann vorsichtiger – er wird den Tacho fast immer im Blick gehabt haben.“
Die Erklärung schien allgemein auf Zustimmung zu treffen. Lüttges wandte sich dem dritten Opfer zu: „Bei Dorn sind die Tempoübertretungen seltener, aber dafür auch heftiger. Um ehrlich zu sein: in mindestens zwei Fällen wundert es mich gewaltig, dass er kein Fahrverbot kassiert hat.“
„Vitamin B“, entfuhr es Henseler.
Zu Delamottes Überraschung stimmte Pesch zu: „Das ist anzunehmen – ein politischer Netzwerker wie Dorn wird in so einem Fall wissen, wen er anrufen muss.“
„Er wird es gewusst haben“, murmelte Jutta Maas.
Falls ihre Bemerkung akustisch bis zu Pesch vorgedrungen war, ignorierte er sie. „Was machen wir mit diesen Informationen?“, wollte er wissen.
Delamotte blickte zu Lüttges: „Wir beiden sollten uns mal mit den regelmäßigen Kontakten der Opfer unterhalten – Familie, Kollegen, Freunde. An der Oberfläche über das Fahrverhalten der Betroffenen; am meisten interessiert mich allerdings, ob die Opfer sich jemals bedroht, verfolgt oder…“ Es dauerte einige Zeit, bis er das inzwischen eingedeutschte Wort gefunden hatte: „Oder gestalkt gefühlt haben.“
Kommissar Manni Lüttges nickte; er hatte so einen Vorschlag von Delamotte bereits erwartet.

Nachdem sich die Gruppe aufgelöst hatte, stand Polizeirat Wilfried Stegmayer noch eine Weile auf dem Gang vor Lüttges‘ Büro. Eigentlich hatte er Delamotte noch ansprechen wollen, aber dafür hatte er zu lange gezögert.
Wie bereits vor ein paar Jahren, dachte Stegmayer mit einer gewissen Bitterkeit. Er mochte Delamotte, und das nicht nur aufgrund der Ergebnisse, die der forensische Psychologe eigentlich fast immer ablieferte. Er mochte ihn persönlich, seine manchmal etwas verschrobene Art, seinen meist undurchschaubaren Sinn für Humor – vor allem aber seine Menschenliebe.
Stegmayer musste unwillkürlich lächeln – das Wort war im Zusammenhang mit einem Mitarbeiter der Polizei fast so etwas wie ein Widerspruch in sich. Der Polizeidienst machte es schwierig bis an den Rand der Unmöglichkeit, so etwas wie Menschenliebe zu empfinden. Dafür sah man in diesem Beruf einfach zu viele Dinge. Aber bei Delamotte war das anders; gut, dachte Stegmayer, er war noch vergleichsweise jung und erst seit gut drei Jahren im Dienst. Aber Stegmayer hatte manche Männer – und Frauen, korrigierte er sich – bereits nach einigen Monaten im Dezernat verhärten sehen. Und Delamotte hatte sicherlich während seines Studiums in den USA auch schon einiges mitbekommen; sein Lehrmeister war Ermittler beim FBI gewesen, erinnerte er sich.
Trotz alledem: als es seinerzeit um Delamottes Einstellung im Dezernat gegangen war, hatte sich Stegmayer erst mal dagegen ausgesprochen. Vielleicht, dachte er, war er zu sehr Kriminalbeamter der alten Schule gewesen. Ein Seelenklempner in seinem Team?
Es war Pesch gewesen, ausgerechnet, dachte Stegmayer, der vehement zugunsten Delamottes interveniert hatte. Und er war einem seiner besten – na ja, seinem zweitbesten – Hauptkommissar gefolgt. Stegmayer wusste nicht, ob diese Geschichte dem Psychologen jemals zu Ohren gekommen war.
Hoffentlich nicht, dachte er. Denn er mochte den Jungen. Und er empfand ein bisschen sowas wie Schuldgefühle ihm gegenüber.

Der Regen, der seit dem frühem Morgen sanft aber beharrlich gefallen war, musste irgendwann im Laufe des Vormittags aufgehört haben. Als Delamotte gegen halb zwei auf die Straße trat, fielen die einzigen Tropfen aus den Blättern der Platanen, die den Bürgersteig von der Fahrbahn trennten und deren Kronen bisweilen von einem Windstoß geschüttelt wurden. Es war weiterhin recht kühl, aber keineswegs zu kalt für April. Bestenfalls zu kalt für Delamotte, der zwei Ampeln überquerte und dann die Längsseite des Platzes in westlicher Richtung entlang lief.
Er kam an einer ganzen Reihe Restaurants vorbei, die vor allem zur Mittagszeit sehr gut besucht waren. Ihm kam der Gedanke, dass ein Zeitreisender aus dem 19. Jahrhundert, ein preußischer Finanzbeamter vielleicht, von der Vielfalt des gastronomischen Angebots am Berliner Platz des frühen 21. Jahrhunderts vermutlich überrascht wäre, um nicht zu sagen überfordert. Auf dem Weg zur Einmündung der Lennéstraße, die zugegeben am anderen Ende des Platzes lag, nahm er – in dieser Reihenfolge – mexikanische, koreanische, italienische, persische, französische, nordafrikanische, türkische, chinesische und griechische Düfte wahr.
Und als er dann an der besagten Einmündung ankam, bemerkte er erstmalig einen Schriftzug auf der anderen Straßenseite – das Lokal hieß Bon Temps, und anhand der Speisekarte konnte er es rasch der Cajun-Küche zuordnen. Er würde das Restaurant einmal besuchen, nahm Delamotte sich vor, während andere Areale seines Gehirns damit beschäftigt waren, aus den olfaktorischen Eindrücken seines Spaziergangs ein wenig Inspiration für das Abendessen abzuleiten.

Das Gebäude des Instituts für Kriminaltechnik war, wie die meisten Häuser in den Nebenstraßen des Berliner Platzes, im zweckmäßigen Stil der fünfziger Jahre in eine der vielen Lücken gesetzt worden, die die Bombenangriffe im zweiten Weltkrieg gerissen hatten.
Nach der Besprechung in Manni Lüttges‘ Büro hatte Delamotte Sabine Greven seinen Besuch telefonisch angekündigt. Von daher war er nicht überrascht, dass sie ihn bereits im Eingangsbereich des Instituts erwartete, die sicherlich sehr stilvolle Kleidung unter einem weißen Laborkittel verborgen. Sie führte ihn in den Keller, vor dem Zugang zum Labor reichte sie Delamotte ebenfalls einen weißen Kittel.
„Ich weiß nicht, ob Ihr Euch schon kennt“, sagte sie, als die beiden in den sehr hell beleuchteten, klinisch wirkenden Raum eingetreten waren.
Nein, dachte Delamotte, den da kenne ich noch nicht. Der ihm unbekannte Mann mit schwarzen Haaren, die zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden waren, kam lächelnd auf ihn zu.
„Das ist Hugo Alvarez“, erklärte Sabine, „seit etwa vier Monaten Mitglied unseres Teams. Ballistikexperte.“
Sie wandte sich Alvarez zu: „Hugo, das ist Markus Delamotte, forensischer Psychologe im Dezernat K.“
„Freut mich, dich kennenzulernen, Markus“, sagte Hugo und nickte ihm zu.
„Ganz meinerseits“, erwiderte Delamotte etwas unbeholfen; in solchen Situationen fühlte er sich immer etwas verloren.
Sabine überspielte den Moment, indem sie auf einen Tisch wies, auf dem diverse Plastikbehälter standen. „Wir haben dir mal ein paar Exponate von den Tatorten zusammengestellt“, sagte sie, „ich habe ja schon am Karfreitag erwähnt, dass wir nicht wirklich viel brauchbares haben. Das interessanteste sind die Projektile, und natürlich das hier.“
Sie hielt einen Plastikbehälter hoch, der in der Mitte geteilt war. Delamotte kam näher und nahm die Box genauer in Anschein. Auf der einen Seite erkannte er ein bereits etwas, nun ja, im Umfang reduziertes Hustenbonbon einer bekannten Marke aus der Schweiz.
„Ja ja“, sagte er, „als ich noch geraucht habe, habe ich diese Dinger kiloweise gefressen.“
Sabine und Hugo grinsten, und der Ballistikexperte meinte: „Dann wird es für die Schweizer Wirtschaft ein Schlag gewesen sein, als du das Rauchen aufgehört hast.“
Delamotte widmete derweil seine Aufmerksamkeit der anderen Seite der Box. „Das ist eher Pappe als Papier, nicht wahr“, stellte er fest.
Sabine bestätigte: „Ja, aber vergleichsweise dünne Pappe – früher gab es ja diese Karteikarten, die hatten wir hier im Institut auch.“
Ja, dachte Delamotte, an Karteikarten hatte er gerade auch gedacht, obwohl er kaum mit solchen zu tun gehabt hatte. „Irgendwelche Reste von Beschriftung?“, fragte er.
Sie schüttelte den Kopf: „Leider nein. Selbst wenn da was gewesen wäre – der Boden war nach den Regenfällen des frühen Abends noch sehr feucht, wie du siehst ist die Pappe sehr fleckig. Tinte zum Beispiel hätte mehrere Stunden in diesem Milieu nicht überstanden, und gefunden haben wir das Ding ja auch erst am frühen Morgen.“
Sabine wies auf den Computer, der auf einem kleineren Tisch in der Ecke des Raumes stand: „Wir können uns gerne einen Scan der beiden Seiten anschauen, wenn du magst. Das lässt sich auch vergrößern.“
Delamotte nickte und nahm unaufgefordert an dem Tischchen Platz. Sabine beugte sich über ihn, und öffnete mit einem Mausklick eine Bilddatei. Delamotte nahm beiläufig den Duft ihres Parfüms wahr – dann konzentrierte er sich auf den Monitor.
Das Bild zeigte tatsächlich nur eine blassgelbe Fläche mit dunklen Flecken, die ihn auch an Wasserflecken denken ließen. Knapp neben der Stelle, an der der Fetzen aus einem größeren Stück herausgerissen worden war, sah er eine ganz dünne Linie.
Er wollte das gerade ansprechen, als Sabine sagte: „Moment mal, was ist das denn? Das ist mir bis jetzt nicht wirklich aufgefallen.“
Sie blickte angestrengt auf die rechte Seite des Monitors, wo die andere Seite des Papierfetzens angezeigt wurde. Mit dem Cursor zeigte sie auf die fragliche Stelle, kaum sichtbar zwischen der Abrisskante und der dünnen Linie, die Delamotte bereits auf dem Scan der Vorderseite aufgefallen war.
Auch Hugo Alvarez, der sich bislang im Hintergrund gehalten hatte, trat hinzu und starrte interessiert auf den Monitor. Sabine Greven vergrößerte den Bildausschnitt.
„Sieht mir ein bisschen wie Farbkleckse aus“, sagte Delamotte.
„Nein, nein, warte mal“, antwortete Sabine und nahm ein paar Einstellungen an dem Grafikprogramm vor; das Bild wurde schärfer.
„Buchstaben“, entfuhr es Alvarez.
„Buchstaben und Zahlen“, bestätigte die Kriminaltechnikerin. Abermals wurde der Bildausschnitt größer. „Das erste Zeichen sieht mir nach einem kleinen a aus“, sagte sie, „und dann ein großes G, vielleicht auch eine Sechs, es ist zu verschwommen.“
Delamotte nickte – das Folgezeichen war eindeutig eine Sieben, dann kam etwas, von dem der Riss nur noch ein winziges Fragment übrig gelassen hatte. Danach ein kleines p – der Rest, den es seiner Einschätzung nach gegeben haben musste, war dem Riss zum Opfer gefallen.
„Das sieht aber auf keinen Fall nach Handschrift aus“, bemerkte Alvarez.
„Sicherlich nicht“, sagte Sabine, „fest eingedruckt, ich tippe auf eine Artikelnummer oder sowas. Das lässt sich auf jeden Fall überprüfen.“
Die weiteren Exponate, die die Kriminaltechniker an den Tatorten gesammelt hatten, gaben nicht viel her. Alvarez zeigte Delamotte die Projektile; es war dem Psychologen spürbar unangenehm, mit Kugeln konfrontiert zu werden, die Menschenleben beendet hatten.
„Und definitiv immer die gleiche Waffe?“, fragte er, obwohl er die Antwort schon kannte.
Alvarez erwiderte: „Kein Zweifel möglich. Eine Handfeuerwaffe, 9 Millimeter Parabellum. Vermutlich ein Fabrikat aus dem Osten, denkbar sind am ehesten Česká Zbrojovka oder Zastava.“
Delamotte war überrascht: „Zastava? War das nicht ein Automobilbauer?“
Alvarez nickte: „Hersteller des berühmten Yugo. Aber in erster Linie haben die Waffen produziert – oder genauer gesagt: das tun sie immer noch.“
Die drei unterhielten sich noch über die Wetterbedingungen zur jeweiligen Tatzeit. Sowohl Sötenich als auch Ernsting waren bei ausgesprochen trockenem Wetter ermordet worden.
„Bei seinem ersten Mord hat sich der Täter ja hinter einem Baum versteckt“, sagte Sabine, „aber die gesamte zweite Julihälfte war derart trocken, dass um den Baum herum keinerlei Fußabdrücke zu finden waren.“
Kurz vor dem Mord an Fischer hatte es sehr stark geregnet; Delamotte überlegte, ob der Uhu vielleicht von der offen einsehbaren Straße aus geschossen hatte, weil er an Orten, an denen er sich hätte verbergen können, zwangsläufig Fußabdrücke hinterlassen hätte. Er würde sich den Tatort noch einmal anschauen müssen.
Dorn schließlich war auch bei trockenem Wetter erschossen worden, allerdings hatte es am frühen Abend leichten Nieselregen gegeben. Auch diesen Tatort, dachte sich Delamotte, wollte er noch einmal sehen; nicht zuletzt trieb ihn dabei die Frage, wo in diesem kleinen Dorf Neringen der Uhu sein Auto hatte parken können.
Als er sich auf den Rückweg zum Präsidium machte, musste sich Delamotte einem Gedanken stellen, der ihn in den letzten Tagen schon öfter gequält hatte. Auf grobe Fehler des Täters zu hoffen, war keine Option.

Am späten Nachmittag rief Pesch Delamotte und Marino noch einmal in Manni Lüttges‘ Büro.
„Was ist mit Jutta und Niclas?“, wollte Marino wissen.
„Auf dem Weg nach Altenstein“, erklärte Lüttges, „zur psychiatrischen Klinik.“
Delamotte kannte die Klinik, er hatte selber einige Zeit dort gearbeitet. „Sabine hat da noch was gefunden“, erzählte er, „auf diesem Stück Karton – könnte ein Fragment einer Artikelnummer sein.“
Pesch trieb ein anderes Thema um: „Was machen wir nun aus den Informationen der Verkehrspolizei? Tötet der Uhu einfach, weil Leute zu schnell gefahren sind?“
Delamotte schüttelte den Kopf; so einfach war es ja nun wirklich nicht, und ein Stück weit enttäuschte es ihn, dass Pesch so eine Frage stellte. Das nicht zuletzt, weil der Hauptkommissar entscheidende Punkte seines Täterprofils nicht verstanden hatte – und das bedeutete wiederum, dass das Profil nicht gut genug war.
Geduldig erklärte er, dass zu schnelles Fahren oder generell Rücksichtslosigkeit im Straßenverkehr durchaus ein auslösender Reiz sein konnte, durch den der Uhu auf ein Opfer aufmerksam wurde. Aber eben mitnichten das eigentliche Motiv für seine Mordwünsche. „Das liegt viel tiefer, und zeitlich deutlich weiter zurück“, sagte er.
„Du hast am Karfreitag mal erwähnt“, warf Lüttges ein, „dass der Täter auch einer von uns sein könnte.“
Pesch zog die linke Augenbraue hoch, Marino schien weniger überrascht.
„Ja“, sagte Delamotte, „sein Umgang mit Schusswaffen könnte bedeuten, dass er beruflich damit zu tun hat – und da stehen wir nun mal mit auf der Liste.“
„Vielleicht jemand von der Verkehrspolizei? Oder sonst jemand, der Zugriff auf ihre Daten hat?“, fragte Lüttges.
Pesch intervenierte: „Die Kollegen von der Verkehrspolizei sind mir bisher nicht gerade als Meisterschützen aufgefallen.“
Delamotte wies daraufhin, dass jemand mit Zugang zu Fahrzeugdaten Ernsting nicht hätte verfolgen müssen: „Er hätte ihn einfach über das Nummernschild identifizieren können. Und jemanden mit 200 Sachen zu verfolgen, ist ja nicht gerade ein Kinderspiel.“
Pesch schien zufrieden: „Na also.“
Delamotte widersprach: „Die grundsätzliche Überlegung, es könnte sich beim Täter um einen Kollegen handeln, ist damit nicht vom Tisch. Ernsting ist nun mal der Sonderfall – die anderen Opfer hat er offensichtlich gezielt ausgesucht und ausgekundschaftet.“
Pesch blickte gequält; Delamotte schaute in Marinos Gesicht und war sich sicher, dass sein Kumpel das Thema bald noch mal unter vier Augen ansprechen würde.

Delamotte lag bereits im Bett. Von irgendwoher hörte er einen Fernseher, und er ging fest davon aus, dass es nicht Frau Renners Gerät war. Seine Vermutung war Britta Kowallik, denn die Werbespots, die gerade liefen, deuteten auf eine Sendung für ein jüngeres Publikum hin. Und kurz nachdem er diesen Gedanken gehabt hatte, bekam er die Bestätigung in Form einer ihm wohlbekannten Melodie. Rob Schencks Late Night Show gehörte zu den wenigen Fernsehsendungen, die Delamotte selber gerne sah. Aber an diesem Abend war er fürs Fernsehen viel zu müde. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. Noch bevor der langanhaltende Applaus für den Gastgeber der Show verklungen war, lag Delamotte schon in tiefstem Schlummer.