Fahrten ins Oberschwäbische oder "Wo die Kirchen Zwiebeln tragen..."

Bedingt durch meine Familiengeschichte väterlicherseits, die auch geprägt ist durch Flucht und Vertreibung aus Schlesien nach dem 2. Weltkrieg, haben wir in meiner Kindheit die Großeltern in Oberschwaben in den 1960er und 70er nur zweimal besucht. Das es so wenig war, lang zum einen an der Entfernung von über 700 km und dem Umstand, dass unser Vater von Montags bis Freitags auswärts arbeitete und froh war, wenn er Zuhause war, erst Recht wenn er Urlaub hatte. Dieses und die Reiseunlust meines Großvaters führte dazu, dass Oma uns öfter besuchte, als wir die Großeltern in Oberschwaben oder eben mein Großvater uns. So waren unsere Eltern mit zunächst uns drei, später vier Kindern, einmal Mitte der 1960er Jahre und 1974 in Oberschwaben. An die erste Reise habe ich kaum Erinnerungen, aber an die Reise von 1974 - da war ich 11 Jahre alt - doch stellenweise sehr klare.

Die erste große Fahrt Ende der 60er Jahre wurde noch mit der Bahn ausgeführt, die zweite 1974 mit unserem VW 1302 "Käfer". Unser Mitglied Albert www.ipernity.com/home/elbertinum hat noch ein schönes Bild mit dieser Art Vehikel. Unser war allerdings in einem schönen Blau lakiert. www.ipernity.com/doc/elbertinum/12681355

Ich hatte mit Beginn der Sommerferien Anfang Juli 1974 die dritte Schulklasse hinter mich gebracht. Ungefähr zu diesem Zeitpunkt - es war aber mit Sicherheit ein Samstag - sollte die Fahrt beginnen. Für uns Kinder war das ein großes Abenteuer. Den ganzen sonnigen und sommerlichen Samstag verbrachten wir Kinder draußen, während sich mein Vater ums Auto kümmerte: Tanken, Wischwaschwassertank auffüllen, Karten zurecht legen... Meine Mutter bereitete derweil im Haus alles vor. Sie stand in der Küche, briet Schnitzel, kochte Eier und packte den ganzen Proviant inkl. Schokolade und Getränke in das Staufach hinter der Rücksitzbank unseres Käfers. Alles weitere Gepäck wurde lose unter der Haube gelegt, so dass dieser Raum zu einem großen Koffer wurde. Zwei Erwachsene und vier Kinder inkl. Gepäck in einem VW Käfer unterzubringen, gelingt mit viel Fantasie spielend. Und ohne Koffer passt eine Menge unter die Haube.

Früh lagen wir im Bett. Vaters Planung sah vor, dass wir in der Nacht auf Sonntag um ca. 3 Uhr starten würden. Er fuhr immer durch die Nacht - staufrei und mit schlafenden Kindern die nicht stören. Doch schlafen konnten wir alle nicht: ich nicht, meine Geschwister nicht und meine Eltern auch nicht. Um 22 Uhr öffnete sich die Kinderzimmertür und nachdem die Prüfung ergab, dass wir Kinder nicht schliefen, hieß es: "Aufstehen, wir fahren los!"
Unsere Route nach Oberschwaben. 1974 fehlten noch viele der heutigen Autobahnen.

Wir waren sicher lange unterwegs. Das Autobahnnetz 1974 war bei weitem noch nicht soweit ausgebaut, wie es heute ist. Der Plan meines Vaters ging auf: Nach den ersten 20 km hatte er vier schlafende und ruhige Kinder auf der Rückbank unseres "Käfers". Unterwegs machten wir Pause auf kleinen Rastplätzen und bedienten uns am Reiseproviant, den meine Mutter bereit gestellt hatte. Mit vier Kindern eine Raststätte mit Restaurant besuchen, sprengte jegliches Budget. Selbst zum Tanken verließ mein Vater die Autobahn und suchte eine Tankstelle in der Umgebung. Wahrscheinlich um sich noch einmal auf der Karte zu orientieren und uns alle noch einmal auf die Toilette zu schicken, fuhr er allerdings zuletzt die Raststätte Stuttgart-Degerloch an, die es schon lange nicht mehr gibt.

Für diesen Abschnitt einer langen Autofahrt werden meine Recherchen etwas ungenau. Eine Zeitlang glaubte ich, dass er über Degerloch die Autobahn verlassen hätte, da aber die Fahrt weiter über und durch Reutlingen verlief, kann das nicht stimmen, denn die heutige B27 mit ihrer Abzweigung nach Reutlingen, gab es damals auch noch nicht. Jedenfalls kamen nach Reutlingen und dem eingeschlagenen Weg Richtung Schwäbische Alb, abenteuerliche Gefühle in meinem fast 11 jährigen Ich hoch.

Märchen - Schlösser - Wilhem Hauff oder "Wer durch Schwaben reist..."

Ich hatte eine märchenhafte Kindheit, abgesehen davon, dass sie durchaus glücklich war. Ich hatte alle Freiheiten, so wie ich sie in den einzelnen Entwicklungstadien brauchte. Natürlich erfüllte man mir nicht jeden Wunsch, den ich aussprach, das wäre wahrscheinlich auch nicht gut gewesen. Schon früh fingen meine Eltern an, mir aus Märchenbüchern vorzulesen. Das regte meine Fantasie an und hat mich, denke ich, bis heute geprägt. Und wenn mal keine Zeit zum Vorlesen war und draußen der Regen und die Kälte sich austobten, stellte uns unsere Mutter einen kleinen Plattenspieler auf, auf dem dann Märchenplatten abgespielt wurden. Und irgendwann fing ich an, selber diese Vielzahl an Märchen zu lesen. Dabei kristalisierte sich ein Autor besonders heraus: Wilhelm Hauff.


Die schönsten Märchen von Wilhelm Hauff

Wilhelm Hauff wurde am 29. November 1802 in Stuttgart geboren und verstarb dort am 18. November 1827 - 25 jährig. Er war ein deutscher Schriftsteller der Romantik und gehörte zum Kreise der Schwäbischen Dichterschule. Seine kurze literarische Schaffensperiode begann 1825 und das wichtigste in unserem Zusammenhang ist sein Roman aus dem Jahr 1826: Lichtenstein. Graf Wilhelm von Württemberg (1810 - 1869), seit 1867 Wilhelm I. Herzog von Urach, der sich sehr für mittelalterliche Geschichte und historische Bau- und Kunstdenkmäler interessierte, war von diesem historischen Roman so begeistert, dass er sich entschloss, auf dem "Lichtenstein" über dem Tal der Echaz das Schloss Lichtenstein auf den Grundmauern eines dort seit 1837 befindliche Forsthauses zu errichten. Der Lichtenstein war schon seit dem Mittelalter Standort von Befestigungen, u.a. der Burg Alt-Lichtenstein, die zwischen 1150 und 1200 erbaut wurde. Ihre Reste sind noch heute ca. 500 m süd-östlich des heutigen Schlosses Lichtenstein zu finden.

Das ganze Areal auf ca. 800 Meter über NN, drängte sich in der kulturgeschichtliche Epoche der Romantik - hauptsächlich in der Zeit zwischen 1790 und 1830 -, förmlich auf, Standort eines "Märchenschlosses" zu werden. Die Romatink idealisierte und verherrlichte das Mittelalter und so ist auch das Schloss Lichtenstein - nicht als einziges - zu sehen, im Aussehen und Wirkung einer mittelalterlichen Burg angeglichen und trotzdem von den historischen und wirklichen Wehrbauten des Mittelaters weit entfernt. Noch heute meinen Viele beim Anblick von Schloss Lichtenstein, dass sie einer mitteralterlichen Burg gegenüber stehen. So wie ich, als 11 jähriger...


Wilhelm Hauff Denkmal am Schloss Lichtenstein

Schönbergturm und Schloss oder "Schaut mal, eine Burg..."

Fahrt durch Pfullingen, Unterhausen und Honau auf die Honauer Steige zu.

Irgendwann nach Tagesanbruch waren wir Kinder natürlich wach und nach etlichen Kilometer Autofahrt, hauptsächlich auf der Autobahn, stellten wir die Frage aller Kinder auf solchen Touren: "Wann sind wir endlich da?" Unsere Eltern versuchten unsere Aufmerksamkeit auf die Gegend zu lenken. Und wenn man Reutlingen verlässt, Pfullingen und Unterhausen durchquert, dann wird es in Honau ziemlich eng, d.h. das Tal der Echaz klemmt sich zwischen Locherstein auf der linken (östlichen) Seite und dem Lichtenstein auf der rechten (westlichen) Seite ein. Danach beginnt der Aufstieg von ca. 520 auf die Schwäbische Alb auf rund 700 Meter über die Honauer Steige. Unsere Eltern machten uns auf das erste sehenswerte Ding, dass man von unten aus dem Tal oben rechts erblicken konnte. "Schaut mal, eine Burg...", hieß es, dabei war es gar keine. Es war der Schönbergturm, ein 26,4 Meter hoher Aussichtsturm, der aufgrund seiner Form und Farbe im Volksmund auch Pfullinger Unterhose, „Onderhos“ genannt wird. Aber die nächste Biegung des Tales zeigte dann etwas spektakuläres - noch 'ne Burg: Am nordwestlich ausgerichteten Steilabfall der Schwäbischen Alb - dem Albtrauf - "klebte" oben am Kalkgestein das Schloss Lichtenstein. "Oh, fahren wir dahin?", meldeten sich die Rückbankreisenden, worauf von vorne die diplomatische Antwort kam: "Jetzt fahren wir erstmal zu Oma und Opa."

Wir sind natürlich nie dort hochgefahren. Zwar gab es diverse Ausflüge auf die Schwäbische Alb - besonders der "große" Familienausflug zur Bärenhöhle mit Oma, Opa, Onkel, Tante und einer Menge Cousins und Cousinen ist mir noch in Erinnerung geblieben - aber dieses Schloss ganz in der Nähe der Höhle geriet in Vergessenheit.


Das Schloss auf dem Lichtenstein

Viel später, als ich schon unabhängig von meinen Eltern unterwegs war, habe ich das Schloss besucht und war - ein ganz klein wenig - dann doch enttäuscht, dass es keine wirkliche Ritterburg ist. Aber Schloss Lichtenstein ist trotzdem ein Besuch wert.