Zeitgenossenschaft der Kunst drückt sich nicht im Sujet aus, sie zeigt sich in ihrer Verstrickung mit den allgegenwärtigen Praktiken der Subjektivierung. Fragen nach der Identität werden hier durch Fragen nach den Techniken der Identifizierung abgelöst. Identität, Einssein mit sich, gründet in einer Vielheit von Wurzeln. Identität hat keinen Ursprung, sie erwächst einem subtilen und nie abgeschlossenen Spiel der Differenzen, genauer: der Differenzierungen, die diskursive Praxis setzt. Heutige Kunstpraxis ist deshalb wesentlich Diskursanalyse. Ihr kritisches Potenzial liegt fern ab vom Plakativem. Sie arbeitet am Kern der Wissensproduktion, wirkt als Subversion der diskursiven Strukturen. Sie macht den Einwand gegen den Unterschied, den Unterschiede machen sichtbar. Kritik selbst wird so zur Kunst, nämlich der „Kunst nicht dermaßen regiert zu werden". Die Regeln dieses Spiels analysieren und in Frage zu stellen zeichnet Kunst aus. Grenzen verflüchtigen, das Spiel der Grenzziehungen unterlaufen, ausweiten und neu definieren zu können, wird zum Signum der Könnerschaft.
In genau DIESEM Sinne ist STATE BRITAIN [!!!] von Mark Wallinger ein epochales Werk der gegenwärtigen Kunst. Und grandios.
Während der Friedensaktivist Brian Haw niemanden gefragt hat, ob er seinen Protest vor dem Parlament aufbauen durfte, sich Gerichtsverfahren erwehren musste, und schliesslich von der Polizei abgeräumt wurde, hat der Künstler Wallinger wohl kaum im Gegensatz zur Tate Gallery gearbeitet. Er ist da nicht eingebrochen, oder hat irgendeine andere Art von Subversion betrieben, um da reinzukommen. Jedenfalls ist darüber in den Medien nichts zu lesen.
Wallingers S/TATE BRITAIN ist epochal (und grandios) in in genau den Lesarten, die ausbuchstabieren, wie seine schiere Größe an einem Ort der Repräsentation des Empires diese Epoche, die vergangene Größe aufruft und zugleich erniedrigt, wie es sie zu einer Epoche der jüngeren Geschichte Britanniens in Beziehung setzt, die als Aufbruch begonnen, sich dazu notorisch der Künstler bedient hat und die nun in ihrem Niedergang einen Abschluss gefunden hat. S/TATE BRITAIN setzt am zentralen Ort den Schlusspunkt, inkorporiert und kontrapunktiert die Position der Kunst und der Künstler im (institutionellen) System der Repräsentation(en) COOL BRITANNIAS unüberbietbar. Epochal fürwahr.
Wallingers S/TATE BRITAIN ist subversiv in in genau den Lesarten, die erkennen lassen, wie hier Grenzziehungen und ganz buchstäbliche Grenzen (nämlich die Bannmeile um Parliament House) unterlaufen, verwischt, durchkreuzt und aufgehoben werden. Haw hat die Bannmeile verletzt. Die Bannmeile läuft (theoretisch) exakt durch die TATE BRITAN und damit durch die im Gebäudelängsschnitt aufgebaute Rekonstruktion. Die Paradoxien und dialektischen Klimmzüge können sie jetzt selbst leicht durchlaufen.
Und, und, und,...
Und wissen Sie was das grandioseste ist? All diese virtuos angespielten formalen Eigenschaften treffen den Kern dessen, wogegen Haw protestiert hat. Das dürfte das Ver-Rückteste sein, was sich über ein vermeintliches „Ready-made“ sagen ließe.
Man muss den Kontext schon kennen, in den sich eine solche Arbeit einschreibt. Einen imaginieren bleibt romantisch. Und es soll ja postautonom zugehen, oder...?
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