Keine Schönheit, nicht wirklich bedeutend, aber ein wenig rätselhaft steht er an seinem Platz: „Wieso ist da ein Schornstein mitten im Wasser?“
Touristen wundern sich, bevor sie dort ihre Selfie-Posen einnehmen.
Für die Angler an der Ufermauer steht der Backsteinbau schon immer da. Seit wann genau, das weiss man nicht, doch sicher ist: Damals muss es fürchterlich aus ihm gestunken haben.


Wir befinden uns an der Rambla, der Uferstraße von Montevideo; dort, wo die Altstadt endet und Richtung Südpol den Blick aufs "Meer" freigibt. An sonnigen Abenden sitzen hier oft hundert Menschen oder mehr, allein und in Gruppen, den Sonnenuntergang geniessend, beim Klönen, Mate-Trinken, Meditieren oder TikTok-Videos glotzend. Etliche blicken den Schiffen beim Ein- und Auslaufen hinterher. Manchmal bin ich auch dabei, denn ich wohne gleich um die Ecke.

Um die schlanke Esse mit den Standortkoordinaten -34.912137, -56.210572 kreisen so viele Geschichten wie Möven. Sie soll zu einer Fabrik gehört haben, die in den Fluten versunken sei. Sie soll ursprünglich ein Leuchtturm gewesen sein, so wird erzählt.

Dabei ist der Bau im Ortskataster aufgeführt als Antiguo Respirador de Colector - also zur Entlüftung des unterirdischen Abwassersammlers, mit dem einst Schmutzwasser und die Fäkalien der Stadt - ungeklärt - in den Rio de la Plata entsorgt wurden. Bevor der Kanal in einem Knick nach unten zum Flussbett geleitet wurde, konnten die Faulgase nach oben entweichen, damit sie nicht die höher gelegene Altstadt verpesten oder gar mit einer Verpuffung Schaden stiften. Seit Jahrzehnten stillgelegt, trotzt der Bau dank seinem soliden Denkmalsschutz bis heute allen Stürmen und Hochwassern.

Das genaue Baujahr ist umstritten, es mag um 1880 gewesen sein. Als 1856 hier die Abwasserkanalisation eingeweiht wurde (als erster Stadt in Lateinamerika und noch vor z.B. Berlin und Hamburg), stand der Entlüftungskamin noch nicht; aber auf Fotos um 1890 ist er abgebildet. Damals hatte er keine nassen Füße, sondern stand auf festem Grund in einem (längst abgerissenen) Arme-Leute-Viertel und Zentrum der Hafenprostitution.

Dieser Bezirk musste in den 1920er Jahren dem großzügigen Ausbau der Uferpromenade Rambla weichen. Seitdem steht der Bau im Wasser, wird flankiert von eleganten Steinbänken und Sitzmauern aus rotem Granit und gibt den Besuchern beim Fotografieren Rätsel auf. Aufgeweckte Kreuzfahrt-Touristen suchen ihn gezielt auf, weil sie ihn schon beim Einlaufen mit Verwunderung im Fernglas entdeckt hatten.

So kommt es, dass man im Internet hunderte Abbildungen von diesem Schornstein findet. Allein bei GoogleMaps & Co. finden sich rund 650 Bilder. Die meisten sind natürlich Smartphone-Schnappschüsse im Vorbeigehen, aber es sind auch ein paar gut gestaltete Fotos darunten. Mir kommt der schöne Spruch in den Sinn (frei nach Karl Valentin): "Es ist schon alles fotografiert worden, nur noch nicht von jedem".

Warum will ausgerechnet ich auf diesen Bilderberg auch noch meine 50 unmaßgeblichen Ansichten drauf packen - gibt es nichts Besseres zu tun?
Ich hoffe, ich habe ein paar gute Gründe:

1. Der Wunsch, die eigene Umgebung auf den Alltagswegen bewusster wahrzunehmen;
2. Die Wechselwirkung zwischen den verschiedenen "Funktionen" dieser Örtlichkeit besser zu erleben: Profane urbane Architektur trifft auf eine maritime Kulisse und wird zum Schauplatz sozialer Bedürfnisse;
3. Die Lust an der fotografischen Langzeitbeobachtung (die auch ein Stück Selbsterkenntnis möglich macht);
4. Die Frage, ob die intensive Beschäftigung mit dem Gegenstand wirklich andersartige oder gar die besseren Bilder ergibt als der flüchtige Kontakt, z.B. als Tourist.

Für die Bildauswahl habe ich mir eine ausgewogene Mischung aus Archivmaterial und aktuellen Fotos vorgenommen. Mich reizt beides: Die Erinnerungen an ein Objekt im Wandel und die "Hier-und-heute-Bilder", die auch ein Stimmungsbarometer sein können. Nur "Kitschpostkarten" wird es nicht geben: Ich misstraue der Idylle, weshalb ich mich auch für diesen profanen Schornstein entschieden habe. Und selbst der schönste Sonnenuntergang soll durch ein paar "störende Elemente" nicht zur Illusion von Heiler Welt verführen.

Ob das gelingt und überzeugt, würde ich gern durch deinen Kommentar erfahren. Ich freue mich auf eine Anmerkung von dir.
So long
Albrecht
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P.S. Zum Start dieses Projekts habe ich mir die kostenlose Testversion des Bildverbesserers Radiant Photo heruntergeladen und bearbeite damit die Bilder dieses Albums. Mit dem Quereinstieg über die KI-Software möchte ich meine tiefsitzende Abneigung gegen die digitale Bildbearbeitung überlisten. Und der JPEG-Falle entkommen. Mein Misstrauen gegenüber Photoshop & Co. mag lange berechtigt gewesen sein; inzwischen empfinde ich es als Vorurteil und nicht mehr passend.
Auf den Gesinnungswandel folgte der Fluch der guten Tat: Jetzt muss ich mich mit 'RAWTherapee' herumschlagen und frage mich alle halbe Stunde, warum ich mir das eigentlich antue ;-). Aber wer weiß - vielleicht finde ich noch meine positive RAWPhilosophee? Und sollte Radiant sich als gutes Werkzeug erweisen, bekomme ich die Vollversion (vielleicht) zum Geburtstag geschenkt.