VII.

Kurz nach dem Duschen bemerkte Delamotte, dass er einen Anruf verpasst hatte. Doch Pesch hatte ihm auch eine Sprachnachricht hinterlassen: „Jakob hier. Grüß dich, Markus. Kannst du es einrichten, um ein Uhr hier im Besprechungsraum zu sein? Manni hat interessante Neuigkeiten, und ich hätte dich sehr gerne dabei. Bis dann. Dies war der Jakob.“ – Art und Aufbau der Nachricht amüsierten Delamotte. Er blickte auf das Display seines Handys – ja, ein Uhr war noch machbar, obwohl der Vormittag schon ziemlich fortgeschritten war.
Spät am Vorabend hatte ihn eine Mail von Charlie Fontenot erreicht, der irgendwo im französisch-sprachigen Internet einen Kurzbericht über den Uhu gefunden hatte. Die beiden hatten danach mehrere Stunden über den Fall gechattet. Seit der Chinesensache hatte Delamotte ziemliche Narrenfreiheit, Details der Fälle mit seinen amerikanischen Freunden zu besprechen. Immerhin hatte diese Vorgehensweise schon Ergebnisse gebracht; und außerdem, wie Pesch einmal einen Einwand beiseite gewischt hatte: „Das sind schließlich auch Kollegen!“
Auf dem Weg zum Aufzug fiel Delamotte ein, dass Pesch erwähnt hatte, Manni habe etwas Neues herausgefunden. Das konnte dann nichts mit Mölders zu tun haben, dachte er – an Mölders war ja Henseler dran. Delamotte war gespannt; wenn Pesch für die Neuigkeiten ein Treffen im Besprechungsraum ansetzte, dürfte es interessant werden. Interessanter sicherlich als die Mittagsnachrichten im Fernsehen, die die alte Frau Renner wohl gerade verfolgte, wie man auf dem ganzen Flur hören konnte.

Als Delamotte aus dem Paternoster stieg, lief ihm Marino über den Weg. Der Kommissar informierte ihn direkt darüber, dass die Telefonnummer aus Anita Beckers „Anzeige“ seinerzeit tatsächlich auf Hanspeter Mölders zugelassen war.
„Und was hat Manni nun Neues herausgefunden?“, wollte Delamotte wissen.
Genaues wusste Marino auch nicht: „Als ich eben mal an seinem Büro vorbeikam, hörte ich ihn telefonieren – auf Holländisch.“
Im Besprechungsraum trafen sie auf Maas und Henseler; Lüttges und Pesch stießen nur einen Augenblick später hinzu. Außer den Ermittlern und dem Psychologen war niemand eingeladen worden.

Pesch überließ von Beginn an Manni Lüttges das Wort. Der blonde Schlaks erklärte: „Wir kennen nun den Grund für die lange Pause zwischen den Morden an Dorn und Ernsting“, begann er.
Die Augen aller Anwesenden richteten sich auf ihn. Lüttges reichte einen kleinen Stapel Fotokopien an den rechts von ihm sitzenden Henseler, der sich ein Exemplar nahm. Während die Kopien unter den Teilnehmern des Treffens rundgingen, fuhr Lüttges fort: „Um es korrekt auszudrücken: wir wissen jetzt, dass es diese Pause nicht gibt. Der Uhu hat in dieser Zeit mindestens zwei weitere Morde begangen – in den Niederlanden.“
Maas und Henseler schienen von dieser Entwicklung überrascht zu sein; Marino hatte so etwas bereits geahnt, die Anfrage bei Interpol war ja auf seine Idee hin gemacht worden.
Lüttges erläuterte die Details, die ihm die holländischen Kollegen zu beiden Fällen übermittelt hatten. „Martijn van Bentum“, begann er, „war ein Architekt aus Hengelo. 41 Jahre alt, verheiratet, zwei Kinder. Ende Januar nahm er an einer Fachtagung in Rotterdam teil. Am 29. Januar wurde er abends gegen halb zehn in einer Unterführung erschossen – er war wohl gerade auf dem Rückweg vom Abendessen, die Unterführung liegt nicht weit entfernt von seinem Hotel. Die örtliche Polizei ging zuerst von einem Raubversuch aus.“
„Aber es war definitiv der Uhu?“, fragte Henseler.
Lüttges bekräftigte: „Das Projektil stammt mit enormer Wahrscheinlichkeit aus der gleichen Waffe, mit der auch unsere Opfer erschossen worden sind.“
Marino meldete sich zu Wort: „Ich vermisse hier die Kollegen von Kriminaltechnik und Gerichtsmedizin. Ich gehe davon aus, Sabine und Gustavssons Leute werden noch informiert, oder?“
Pesch wirkte etwas genervt: „Natürlich werden sie das. Die Information aus Holland ist taufrisch – ich habe Manni aufgrund seiner Sprachkenntnisse erst mal alleine loslaufen lassen.“
„Kommen wir zum zweiten niederländischen Opfer“, durchbrach Lüttges die aufkommende Gereiztheit am Tisch. „Henk Oudwater, 36 Jahre alt, selbständiger LKW-Fahrer aus Eindhoven. Geschieden. Die Scheidung muss ziemlich kostspielig gewesen sein – vorher hatte er eine kleine Spedition mit mehreren Fahrzeugen und Mitarbeitern, seitdem arbeitete er alleine. Am 8. März, kurz vor 21 Uhr, wurde er auf einem Rastplatz zwischen Den Bosch und Eindhoven erschossen. Er war auf dem Heimweg von einer Fahrt und hatte auf dem Rastplatz Zigaretten gekauft. Auch in diesem Fall ist die ballistische Untersuchung ziemlich eindeutig.“
„Habe ich das richtig verstanden, der Mord war am 8. März?“, fragte Henseler.
Lüttges bejahte, und Pesch wollte den Grund für Henselers Frage wissen.
Der junge Kommissar erwiderte: „Ich habe eben die Einsatzzeiten von Mölders bekommen. Bis jetzt habe ich sie nur mal überflogen – aber in den ersten drei Märzwochen war er krankgeschrieben, daran erinnere ich mich genau.“
„Und das heißt jetzt was?“, hakte Pesch nach.
„Nun ja“, sagte Henseler, „wenn er ernsthaft krank war, kommt unser Motorrad-Casanova wohl kaum für die Rolle des Uhu in Betracht. Und wenn nicht…“ Henseler musste den Gedanken nicht weiterspinnen.
Pesch nickte: „Stimmt. Gute Arbeit. Versuch bitte rauszukriegen, was genau Mölders in der fraglichen Zeit hatte. Und schau, inwieweit seine Zeiten zu den anderen Morden passen.“
Jutta Maas wollte wissen, inwiefern die beiden Opfer aus den Niederlanden denn etwas mit Marßen verband.
Lüttges erklärte: „Der Architekt hatte regelmäßig hier zu tun, das hat mir sein Büro bereits bestätigt. In jüngster Zeit wohl vor allem bei den Erweiterungen von TeleCity. Und vor einer Stunde habe ich mit der Ex des LKW-Fahrers gesprochen – er hat ziemlich häufig niederländische Produkte an Supermärkte in Marßen ausgeliefert.“
„Und was sagen die Kollegen von der Verkehrspolizei zu den beiden?“, fragte Pesch.
„Beide Namen sind in deren Systemen nicht vorhanden“, antwortete Lüttges, „das scheinen diesbezüglich unbeschriebene Blätter zu sein.“
„Und wie geht’s jetzt weiter?“, fragte Marino.
„Manni fährt morgen nach Holland, um noch mehr Informationen zu bekommen“, erklärte Pesch.
Delamotte sprach Lüttges an: „Kannst du dabei nachfragen, welche Orte in Marßen die beiden Männer angefahren haben? Am besten detailliert, LKW-Fahrer müssen das ja dokumentieren, und der Architekt wird solche Fahrten wohl auch zumindest bei der Steuererklärung angegeben haben.“
Der Kommissar nickte und machte sich eine Notiz.
„Verfolgen wir weiterhin die Idee, der Uhu könnte nach dem Mord an Dorn unser Näherkommen gespürt haben“, warf Henseler ein. Pesch beobachtete Delamotte genau, wollte die Reaktion des Psychologen sehen.
Delamotte ließ keine Zweifel zu: „Ja, daran sollten wir auf jeden Fall festhalten. Grundsätzlich geändert hat sich die Situation ja nicht. Ob unser Mann nun eine Zeitlang gar nicht tötet, oder eben in einem Nachbarland, wo er davon ausgehen kann, dass niemand die Taten mit denen in Marßen in Verbindung bringt. Eine Ausweichbewegung ist es auf jeden Fall.“
„Wenn der Uhu so weit denkt, ist er alles andere als ein Dummkopf“, stellte Pesch fest.
„Das hatte ich, glaube ich, bereits im Profil deutlich dargestellt“, antwortete Delamotte. „Davon mal abgesehen“, fuhr er fort, „klafft auch zwischen den Morden an Dorn und an dem Architekten eine Lücke von drei Monaten. Und nun, da wir wissen, dass er in Holland gemordet hat, stellt sich umso stärker die Frage: wo kam er her in der Nacht auf Gründonnerstag?“ Sein Blick begegnete Marinos – Claudios Nicken war mehr als nur zustimmend.

„Und weißt du, was total lustig ist?“, fragte Britta, als sie mit dem Flaschenöffner ins Wohnzimmer zurückkam.
Delamotte schüttelte den Kopf und öffnete zwei Flaschen Val-Dieu Blonde. Er hatte das Sixpack direkt nach der Heimkehr vom Präsidium aus dem Keller geholt und dem Bier im Kühlschrank die richtige Temperatur verpasst. Das beinahe schon sommerliche Wetter draußen schrie geradezu nach Bier, die Balkontüre stand offen, und obschon die Fernsehnachrichten schon vorbei waren, konnte man immer noch einen Rest der Sonne am Horizont sehen. Das Jahr ging auf seine längsten Tage zu.
Britta erzählte weiter: „Der Norbert sieht dir ziemlich ähnlich.“ Die beiden stießen mit den Flaschen an, Delamotte nahm einen kräftigen Schluck. Überrascht war er nicht; Rechtsanwalt Norbert Dierdorf, Brittas neuer Chef, war der Sohn von Erika Dierdorf, geborene Morenhoven. Delamotte kannte sie, eine Cousine zweiten Grades seiner Mutter, als Tante Erika.
Generell gefiel Britta die Arbeit in der Kanzlei Dierdorf sehr gut. Die Kolleginnen waren ebenso nett wie die junge Sozia, die Norbert Dierdorf etwa vor einem Jahr hinzugenommen hatte. Und Norbert war Frauen gegenüber unübertroffen charmant. Offenbar war Britta noch nicht lange genug in der Kanzlei, um die Geheimnisse zu kennen, die Delamotte ihr in dieser Situation auch tunlichst verschwieg.
Dass Norbert sich vor Jahren mal intensiv für Hardy interessiert hatte, blieb ohnehin in der Familie. Und das größere Bild würde sich Britta im Laufe der Zeit schon erschließen – und auch, dass Bliesfeld kein Ort war, an dem man das Privatleben ins Licht der Öffentlichkeit zog. Und überhaupt: ja, Norbert Dierdorf war Frauen gegenüber in einem Maße zuvorkommend, das ihn für manch Anderen zum Vorbild hätte machen sollen. Besonders für solche Anderen, die sich von Frauen mehr erhofften als lediglich eine gute Arbeitsleistung.
„Wie sieht es denn bei dir aus“, wollte Britta wissen, „kommt ihr bei der Jagd nach dem Uhu weiter?“
Das wiederum überraschte Delamotte – woher wusste seine Nachbarin, dass er an dem Fall arbeitete?
„Das stand zumindest gestern im ‘Blitz’“, sagte sie, als hätte sie seine Gedanken gelesen, „dass dieser Hauptkommissar Pesch dich dazu geholt hat, weil er mit herkömmlicher Polizeiarbeit nicht so richtig vorwärtskam.“
Delamotte konnte sich denken, wer den Artikel geschrieben hatte; aber sein instinktiver Ärger wurde gemildert durch den Umstand, dass wohl auch ein Stück weit Kritik an Pesch geäußert worden war. Nicht ganz zu Unrecht, wie Delamotte empfand.
Zudem war da das verständnisvolle Lächeln in Brittas Gesicht, als sie sagte: „Aber lass uns ruhig von was Anderem reden, du hast ja bestimmt den ganzen Tag mit diesem verdammten Fall zu tun.“

Delamotte stieg aus dem Auto und blickte sich um. Die Siever floss mit leisem Rauschen vorbei. Er war noch einmal nach Neringen gefahren, um sich den dritten Tatort anzuschauen. Unter den Marßener Opfern war – von Dr. Ernsting abgesehen – Dorn der einzige gewesen, den der Uhu nicht in unmittelbarer Nähe des jeweiligen Wohnsitzes erschossen hatte. Und irgendwo hatte der Täter seinen Wagen abgestellt – sicherlich nicht direkt auf diesem Parkplatz, diesbezüglich hatte Lüttges vermutlich recht. Die kleine Steinbrücke in seinem Rücken war die einzige Zufahrtsmöglichkeit zu dem Parkplatz. Vor ihm befand sich eine kleinere Brücke für Fußgänger, die das Flüsschen, das an dieser Stelle eine Schleife machte, überspannte und auf dem anderen Ufer in eine kleine Gasse überging.
Der Psychologe dachte nach; der Uhu hatte den Schuss von der Steinbrücke aus abgefeuert. Es erschien ihm höchst unwahrscheinlich, dass dieser bedachte und vorsichtige Mörder danach über den gut beleuchteten Parkplatz und die Fußgängerbrücke spaziert war.
Delamotte wandte sich um und ging über die Steinbrücke zur Hauptstraße des Ortes, die den Namen Altensteiner Straße trug. Linker Hand sah er in geringer Entfernung das Ortsausgangsschild – Parkmöglichkeiten sah er keine, und außer Orts hatte der Täter sein Auto wohl kaum abgestellt. Delamotte ging nach rechts; die Altensteiner Straße schien die einzige größere Straße von Neringen zu sein, und die wenigen Parkbuchten befanden sich durchweg vor Geschäften oder Lokalen. Zudem war die Straße, wie Delamotte rasch erkannte, mit Laternen recht gut ausgestattet. Er schüttelte den Kopf – auch hier wäre das Risiko, von zufälligen Passanten gesehen zu werden, dem Uhu wahrscheinlich zu groß gewesen. Also beschloss Delamotte, eine kleine Erkundungstour durch die Sträßchen und Gassen von Neringen zu machen.
Etwa eine halbe Stunde später stand er vor dem offenbar größten Gebäude des Ortes, einem ziemlich wuchtigen Bruchsteinbau, in dem sich das Hotel Bohemund von Altenstein befand. Hier hatte, erinnerte sich Delamotte, die Parteiversammlung stattgefunden, an der Dorn seinerzeit teilgenommen hatte. Das Haus lag am anderen Ende des Dorfes, mit der Front direkt zur Hauptstraße. Rechts von dem Gebäude lag die kleine Gasse, die zu der Fußgängerbrücke führte. Auf seinem Spaziergang durch Neringen war Delamotte aufgefallen, dass die vielen kleinen Straßen des Ortes für einen Ortsfremden kaum Parkmöglichkeiten boten. Nur wenige der malerischen Fachwerk- und Bruchsteinhäuser verfügten über Garagen, und die hier und da am Straßenrand eingezeichneten Stellplätze waren den Anwohnern vorbehalten. Wo hatte der Uhu hier parken können?
Delamotte widerstand der Versuchung, über die Fußgängerbrücke zum Parkplatz zurückzukehren und den Ort mit einer ungeklärten Frage zu verlassen. Stattdessen ging er die Hauptstraße entlang, bis er vor einem Geschäft stehen blieb. „Wunderwelt Wein“ lautete die Aufschrift auf dem Schild, das über dem Eingang des Ladens hing. Das Geschäft war um diese Zeit geschlossen, wie er einem Zettel an der Türe entnahm – dennoch wagte er einen Blick durch das Fenster in den überraschend geräumigen Laden.
„Sie können auch gerne reinkommen“, hörte er eine Stimme aus Richtung der Tür. Dort stand ein graubärtiger Mann von etwa Mitte Fünfzig, stilvoll gekleidet in einem grünen Tweedsakko und dazu passender Hose. Den Kragen des beigen Oberhemdes zierte eine dunkelblaue Fliege. Delamotte nahm die Einladung dankend an.
„Unsere Hauptgeschäftstage sind Freitag und Samstag“, erklärte der Mann, „und natürlich Sonntag – ich habe eine Sondergenehmigung dafür.“
„Sie sind der Eigentümer?“, fragte Delamotte.
Sein Gesprächspartner nickte: „Sebastian Hilbert, stets zu Diensten. Sind sie neu hier in Neringen? Ich habe Sie, glaube ich, noch nie gesehen.“
Der Psychologe schüttelte den Kopf und stellte sich vor: „Markus Delamotte, schön Sie kennenzulernen. Nein, ich wohne nicht in Neringen – die Preise der Häuser hier wären wahrscheinlich ein bisschen zu hoch für das Salär, das Vater Staat mir zahlt.“
Hilbert lachte: „Das kommt wahrscheinlich auf die Besoldungsgruppe an – die Spitzen der städtischen Verwaltung sind hier recht gut vertreten, und auch so manch hoher Landesbeamter. Was glauben Sie, wem ich die Sondergenehmigung für den Sonntagsverkauf verdanke?“ Er führte Delamotte zur Theke am Ende des Verkaufsraumes.
„Und was führt Sie hierher, wenn ich so neugierig sein darf“, fragte der Weinhändler, während er einige Flaschen in ein kleines Regal hinter der Theke einsortierte.
„Streng genommen mein Beruf“, antwortete Delamotte.
Hilbert lächelte: „Das muss ein angenehmer Beruf sein, wenn Sie im Rahmen seiner Ausübung mal eben in meinem Geschäft vorbeischauen können.“
Delamotte zögerte einen Augenblick – der Weinhändler machte allerdings einen vertrauenswürdigen Eindruck auf ihn. „Nun ja, ein gewisses Maß an Freiräumen kann man sich als forensischer Psychologe schon rausnehmen“, sagte er.
Hilbert wandte sich ihm zu: „Jetzt weiß ich auch, woher ich Ihren Namen kenne. Sie sind bei der Polizei, gehören zu der Truppe, die diesen Uhu jagt, nicht wahr?“
Delamotte war ähnlich überrascht wie am Vorabend bei Britta: „Hat sich das schon soweit rumgesprochen? Gestern hat meine Nachbarin das bereits erwähnt.“
„Ihr Name steht ja auch schon in den Zeitungen“, erwähnte der Weinhändler, dessen Verwendung des Plurals Delamotte klarmachte, dass nicht nur der „Blitz“ ausgiebig über den Fall berichtete. „Auf jeden Fall wünsche ich Ihnen viel Erfolg dabei“, fuhr Hilbert fort, „und das nicht nur, weil der Kerl einen meiner besten Kunden ermordet hat.“
„Sie kannten Dorn?“, fragte Delamotte.
Hilbert bestätigte: „Er war Stammkunde hier, und überhaupt ein sehr angenehmer Zeitgenosse. Sehr klug, sehr weitsichtig.“ Er überlegte einen Moment: „Mit etwas weniger Klugheit und Weitsicht wäre er vermutlich schon Minister gewesen.“ Delamotte musste unwillkürlich grinsen – der Mann war nach seinem Geschmack.
„Haben Sie sich den Tatort noch mal angeschaut?“, wollte Hilbert wissen.
„Das ganze Dorf“, erwiderte Delamotte, „irgendwo muss der Uhu sein Auto abgestellt haben – und so wie wir ihn einschätzen, war das nicht auf dem großen Parkplatz am Fluss. Andererseits: so üppig ist Neringen ja nicht mit Parkmöglichkeiten ausgestattet.“
Der Weinhändler widersprach: „Das kommt ganz darauf an – von Freitagmittag bis Montagfrüh trifft das schon zu, aber zu anderen Zeiten nicht. Gut und gerne ein Drittel der Häuser hier sind nur am Wochenende bewohnt.“
Delamotte fiel ein, dass er in der Tat viele geschlossene Fensterläden gesehen hatte. „Der Mord ist an einem Dienstagabend geschehen, Dorn hatte an einer Parteiversammlung hier in diesem Hotel teilgenommen“, sagte er.
„Im Bohemund“, ergänzte Hilbert, „das wundert mich nicht, da ist Herr Dorn ziemlich oft eingekehrt. Die Küche ist exquisit – der Chefkoch hat seine Ausbildung am Institut von Bocuse gemacht.“ Er hielt kurz inne, sprach dann weiter: „Und an einem Dienstagabend, da hatte der Mörder genug Möglichkeiten, seinen Wagen auf einem der Anwohnerstellpätze zu parken. An so einem Wochentag würde das auch nicht unbedingt auffallen. Wenn der Täter sich vorher hier mal umgeguckt hat…“
Delamotte nickte: „Davon ist auszugehen.“
„Nun, dann war Ihr Weg nach Neringen ja nicht umsonst“, sagte Hilbert.
Delamotte stimmte ihm zu – vermutlich hatte der Uhu tatsächlich in einer der kleinen Dorfstraßen geparkt, nicht allzu weit von der Steinbrücke entfernt.
„Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?“, fragte der Weinhändler.
Delamotte nickte: „Wenn ich schon mal hier bin – ich suche immer nach interessanten Weinen, vor allem aus eher weniger bekannten Regionen.“
„Dann dürften Frankreich, Deutschland und Italien nicht ganz so interessant für Sie sein, das macht es für mich einfacher“, bemerkte Hilbert.
„Das gilt auch für Spanien, Österreich und Ungarn“, ergänzte Delamotte, „und auch für Georgien und den Libanon.“ Ali hatte ihn schon vor einiger Zeit mit Weinen aus seinem Heimatland vertraut gemacht.
Der Weinhändler überlegte: „Haben Sie schon mal was aus Moldawien getrunken?“
Delamotte verneinte, das hatte er noch nicht. Hilbert ging zu einem der Regale, nahm eine Flasche und entkorkte sie erstaunlich geschwind. Er goss einen Schluck in ein Glas und reichte es Delamotte: „Probieren Sie den mal.“
Der Rotwein schmeckte hervorragend, dachte Delamotte. Den bereitstehenden Spucknapf ignorierte er; es war ihm immer schon fast widernatürlich erschienen, das Ergebnis langer und hingebungsvoller Arbeit der Winzer einfach so auszuspucken. Er nahm die Flasche zur Hand und studierte das Etikett – Negru de Purcari hieß der Tropfen.
„Das ist quasi der Vorzeigewein des Landes, sogar das englische Königshaus hat den im Keller liegen“, erklärte Hilbert. Der Betrag auf dem Preisschild erschien Delamotte angemessen, sogar vergleichsweise günstig.
Der Weinhändler schien seinen Blick falsch zu interpretieren. „Wir haben auch noch den Rosu de Purcari, der ist ein Stück preiswerter“, sagte er.
„Na, dann nehme ich mal jeweils drei Flaschen mit“, bemerkte Delamotte und zog das Portemonnaie aus der Jackentasche. Der Besuch in Neringen hatte sich für ihn in vielerlei Hinsicht gelohnt.

Auf dem Rückweg legte er im Präsidium eine Zwischenstation ein. Erst im dritten Stock erinnerte er sich wieder daran, dass Manni Lüttges ja in Holland weilte. Auch Peschs Büro fand er leer vor. Marino dagegen war anwesend, in ein Gespräch mit Henseler vertieft. Delamotte erzählte von seinem Erkundungsspaziergang durch Neringen, und den Erkenntnissen, die er dort gesammelt hatte.
Als er sich schon zum gehen wenden wollte, räusperte sich Henseler. „Übrigens“, sagte der Kommissar, „Mölders hat sich Anfang März bei einem Unfall mit seinem privaten Motorrad den Fuß angebrochen. Ein paar Tage lang lag er im Unfallklinikum Heppel, den Rest der Zeit zuhause. Und mit einem eingegipsten Fuß wird er wohl kaum nach Holland gefahren sein, um dort diesen LKW-Fahrer zu ermorden.“
Diese Information passte zu der Einschätzung Delamottes, dass der Motorradpolizist wohl kaum der Uhu sein konnte.
„Letztes Wochenende“, fuhr Henseler fort, „war er mit einem Teil der Staffel am Nürburgring eingesetzt – für die Tatzeit im Fall Becker dürfte er also ein Alibi haben. Das gleiche gilt auch für die Morde an…“
Delamotte winkte ab – sollte sich Pesch ruhig Gedanken darum machen, ob es ihm reichte, wenn Mölders für eine, zwei oder noch mehr der Taten nicht infrage kam. Für den Psychologen reichten die beiden Beispiele auf jeden Fall.
Klick. Auf dem Bildschirm erschien die Landkarte der Stadt Marßen – einige der Hauptverkehrsadern waren in blau herausgestellt.
Klick. Die gleiche Karte, aber andere Verkehrsadern, diesmal in rot.
Klick. Auf der Karte erschienen wiederum andere Teile des Straßennetzes in grün.
Klick. Diesmal waren einige Straßen orange. Klick. Und dieses Mal braun.
Klick. Schließlich Verkehrswege in lila.
Ein letzter Mausklick. Die Landkarte wurde ausgesprochen bunt. Und es ergab sich ein Gesamtbild, und daraus ableitbar eine aussagekräftige Erkenntnis.
Delamotte war zufrieden. Er würde Henseler danken dafür, dass der junge Kommissar ihn in diese Software eingearbeitet hatte. Eine grafische Darstellung konnte seine Gedanken viel deutlicher untermalen als das Datenmaterial, das er gesammelt hatte. Lüttges hatte ihm einen Teil der Berichte aus den Niederlanden übersetzt; nötig gewesen war das nicht, zu Delamottes Überraschung hatte er die Sprache des westlichen Nachbarlandes in geschriebener Form deutlich besser verstehen können als erwartet. Weitere Daten hatte er den Mappen zu den Marßener Fällen entnehmen können, und auch das eine oder andere Telefonat geführt.
Sein Blick fiel auf die Uhr am unteren rechten Bildrand. Er schloss das Programm und versetzte den Rechner in den Energiesparmodus. In der Küche arrangierte er frische Vollkornbrötchen, Lyoner und Handkäse in einem rustikalen Korb, in den er auch eine Tonschale mit selbstgemachter Zwiebelmarinade legte. Den Spätburgunder aus Schweigen hatte er schon vor gut einer Stunde entkorkt. Den Korb in der einen und die Flasche in der anderen Hand machte er sich auf den Weg.

Britta empfing ihn mit einem zauberhaften Lächeln. „Du siehst heute viel besser aus als vor ein paar Tagen“, sagte sie, „da hatte ich mir schon Sorgen gemacht, dass der Stress im Job dir zu sehr zu schaffen macht.“ Sowohl das Kompliment als auch das Mitgefühl seiner Nachbarin ließ Delamotte strahlen – und ja, er fühlte sich heute auch besser als in den letzten Tagen.
Beschwingt folgte er Britta ins Wohnzimmer. Die weite Jogginghose, die sie trug, schlackerte ihr um die Hüften. Aber das störte Delamotte nicht; höchstens ein ganz kleines bisschen.