VI.

Delamotte fühlte sich unwohl; er hatte schon so manchen Tatort gesehen, aber noch nie derart unmittelbar nach dem Verbrechen. Marino fuhr langsam an den Absperrungen vorbei, hinter denen die Kriminaltechniker nach Spuren suchten. Delamotte sah Sabine Greven, die kurz aufblickte und den beiden zunickte. Pesch stand bei Wittmann von der Gerichtsmedizin; er erkannte Marinos Auto und kam auf den Wagen zu.
„Etwa zweihundert Meter von hier sind ein paar Parkbuchten, stellt den Wagen dort ab und lasst euch nicht von den ganzen Journalisten anquatschen“, sagte er.
Auf dem Weg zurück sah Delamotte einen dunkelblonden Lockenkopf und fluchte leise. Marino sah ihn fragend an.
„Da steht Jakubowski“, erklärte Delamotte.
„Ignorier das Arschloch einfach“, riet ihm sein Kumpel.
Aber er hatte den Kerl nun mal gesehen, und Jakubowski ihn mit Sicherheit auch, und das mit dem Ignorieren fiel Delamotte alles andere als leicht. Pesch kam ihnen entgegen und führte die beiden an den uniformierten Kollegen vorbei. Ein Blitzlicht erhellte die Szenerie, einer der Fotografen hatte wohl gerade sein Abendessen verdient.
Pesch brachte Marino und Delamotte auf den Stand: „Ihr Name ist Anita Becker. Kosmetikerin, Mitte Dreißig. Sie war gestern Abend auf einem Junggesellinnen-Abschied – nicht ihrem eigenen, sondern dem einer guten Freundin. Sie hat ihr Auto noch in die Garage gefahren; als sie das Tor schließen wollte, traf sie der Schuss.“
Marino deutete auf den Krankenwagen, der gerade mit Blaulicht losfuhr: „Hat sie etwa…“
Pesch schüttelte den Kopf: „Ihr Lebensgefährte. Er hat sie gefunden, steht unter Schock.“ Er hielt kurz inne. „Einer der Nachbarn hat den Mann schreien gehört und den Notruf gewählt. Das war zehn vor zwei.“
Delamotte blickte sich um; eine Wohngegend, ähnlich wie bei Sötenich. Die Bebauung war etwas dichter, die Gärten etwas kleiner – das war hier im Westen der Stadt aber nicht ungewöhnlich.
Pesch sah ihn an: „Es sieht fast alles nach unserem Mann aus.“
Delamotte stimmte weitgehend zu: „Bis auf das Geschlecht des Opfers, wolltest du sagen.“
Pesch nickte: „Falls sich unser Verdacht bewahrheitet und der Uhu erstmalig eine Frau getötet hat – macht das einen Unterschied?“
„Ich denke schon. Doch, auf jeden Fall“, antwortete der Psychologe. Er überlegte einen Augenblick, bevor er fortfuhr: „Aber frag mich bitte nicht, welchen Unterschied genau. Zumindest jetzt noch nicht – ich muss darüber nachdenken.“
Pesch nickte und berührte ihn leicht an der Schulter – doch Delamotte entging mitnichten die Enttäuschung im Gesicht des Hauptkommissars.
Er ging vorsichtig am Rand der Absperrung vorbei, die Leiche der Frau lag immer noch vor der Garage, mit einer Plane abgedeckt. Delamotte verspürte keinerlei Drang, die Leiche zu sehen; das war nicht sein Metier.
Wittmann kam auf ihn zu: „Ich nehme an, Pesch hat euch schon alles erzählt. Wieder mal ein Kopfschuss, wieder mit fast schon klinischer Präzision.“
„Kannst du schon sagen, von wo aus der Täter geschossen hat?“, fragte Delamotte.
„Noch nicht mit absoluter Sicherheit“, antwortete Wittmann, „aber ich denke mal, von da drüben.“
Delamotte folgte Wittmanns Blick auf die andere Straßenseite, wo ein Kleintransporter geparkt war. Er nickte: „Er hat auf sie gewartet, mitten in der Nacht. Er muss zumindest geahnt haben, wann sie nachhause kommen würde.“

Als sie wieder auf dem Rückweg nach Berschweiler waren, bat Delamotte Marino um einen kleinen Umweg. Er hatte einen Wegweiser zum ehemaligen Kloster Vernay gesehen. Marino fragte nicht nach Gründen – er kannte seinen Kumpel lange genug und konnte sich den Grund zumindest vorstellen. Und es war ja auch nur ein kleiner Umweg.

Die frühere Zisterzienser-Abtei bestand schon lange nicht mehr. In ihren Gebäuden saß inzwischen die Verwaltung der Schulen und Kindergärten, die das Bistum in der Gegend betrieb. Die alte Stiftskirche diente inzwischen als herkömmliche Pfarrkirche, und war auch bei Ortsfremden sehr beliebt, besonders für Hochzeiten.
Delamotte, der zuvor noch nie in Vernay gewesen war, musste zunächst einmal den Eingang der Kirche suchen. Im Inneren des spätromanischen Bauwerks war es vergleichsweise dunkel, aber seine Augen gewöhnten sich rasch an den Mangel an Licht, und in der Mitte des Seitenschiffs fand er, was er gesucht hatte.
Vor der strahlend-weißen Muttergottes-Figur kniete er nieder. Er schloss die Augen, begann.
Allmächtiger Vater, Jesus Christus, Heiliger Geist…
Er blickte auf, in das freundliche Gesicht, das ihn über die gefalteten Hände hinweg gütig ansah.
…Mutter Gottes…
Es war Delamotte klar, dass die Eröffnung seines Gebets alles andere als strenggläubig war. Es hieß nun mal Dreifaltigkeit, nicht Vierfaltigkeit. Allerdings hatte ihn schon immer, bereits als Kind, die Güte Mariens besonders angezogen, und der Trost den sie spendete.
Ich weiß, dass ich viel zu selten mit Euch spreche. Und Ihr wisst, dass ich Euch immer dann anspreche, wenn mir etwas auf dem Herzen liegt. So wie jetzt, da ich wieder zu Euch komme mit einer Bitte.
Delamotte hielt kurz inne – er würde natürlich nicht darum bitten, dass der Uhu einfach so erwischt werden sollte. Die Aufgabenverteilung war in diesem Punkt ganz klar geregelt; dies war seine Aufgabe und die seiner Kollegen. Er hatte auch nie um Beistand gebeten, als er das Rauchen aufgegeben hatte – man gab seine Verantwortung nicht im Gebet ab.
Bitte gebt uns, meinen Kollegen und mir, in diesen Zeiten die notwendige Stärke. Lasst uns an dieser Aufgabe nicht verzweifeln. Gebt uns die Einsicht, uns und anderen bei dieser Aufgabe mit Verständnis, mit Unterstützung, mit Liebe zu begegnen. Gebt uns die nötige Kraft und Zuversicht.
Er selber hatte viel Vertrauen in die Fähigkeit des Teams, den Uhu zu stoppen. Fragt sich nur wann, meldete sich eine zweifelnde Stimme in seinem Kopf. Er versuchte sie rasch zu verdrängen, und konzentrierte sich auf den Abschluss seines Gebets.
Wie jedes Mal bitte ich Euch darum, Eure schützenden Hände weiterhin über alle guten Menschen zu halten, und ganz besonders über jene, die mir sehr am Herzen liegen.
Verschiedene Gesichter zogen sehr schnell an seinem inneren Auge vorbei; es waren zwei neue hinzugekommen.
Ich danke Euch für all Euer Verständnis, Eure Hilfe und Eure Liebe. Amen!

Als Delamotte wieder ins Tageslicht trat, dachte er noch einmal kurz über sein Gebet nach; er hatte keine unangemessenen Bitten geäußert. Mit einem zufriedenen Lächeln ging er auf Claudio Marinos BMW zu. Marino war nicht im Geringsten überrascht.

Zuhause dachte Delamotte über Peschs Frage nach, die ohne Zweifel berechtigt war. Natürlich machte es einen Unterschied, dass das fünfte Opfer des Uhu eine Frau war – aber welchen? Gerechnet hatte Delamotte nicht mit einer solchen Wendung; ehrlich gesagt hatte er nie darüber nachgedacht, ob der Uhu eventuell auch weibliche Opfer fordern könnte.
Die allermeisten Menschen schreckten generell vor Gewaltanwendung zurück – vor der konkreten Anwendung von Gewalt, wohlgemerkt, nicht vor gewalttätigen Gedanken. Unter denjenigen, die dann doch zu Gewalt griffen, ohne sich gegen einen Angriff verteidigen zu müssen, waren die Männer deutlich überrepräsentiert. Dies mochte sowohl soziale als auch biologische Gründe haben – und sei es der simple Umstand, dass Männer sich aufgrund ihrer im Allgemeinen überlegenen Physis einen gewalttätigen Angriff auf andere eher leisten konnten. Körperlich schwache Männer neigten Delamottes Erfahrung zufolge eher dazu, Gewalt anzufachen als sie selber auszuüben, und waren darin manchen Frauen nicht unähnlich.
Aber selbst vergleichsweise gewaltaffine Männer hatten, wie Delamotte schon einige Male festgestellt hatte, gegenüber Frauen eine über das für sie normale Maß hinausgehende Gewalthemmung. Daher war auch die überwältigende Mehrheit der Opfer von Gewalttaten männlich, mit Ausnahme von Sexualverbrechen und Serienmorden. Delamotte wusste, dass auch die meisten Serienmörder eine starke sexuelle Komponente antrieb. Von daher war die Rechnung ziemlich einfach: wenn die Taten in starkem Maße sexuell motiviert waren, die Täter weit überwiegend männlich, und die Gesellschaft ebenso überwiegend heterosexuell, dann ergab sich daraus ein deutliches weibliches Übergewicht auf Seiten der Opfer.
Beim Uhu hatte Delamotte von Beginn an sexuelle Motive vermisst. Eigentlich, dachte er, hätte er sich schon längst die Frage stellen müssen, warum dieser Täter bislang nur Männer ermordet hatte. Und nun lag für ihn die Frage auf der Hand: warum war erst das fünfte Opfer des Uhu eine Frau, und nicht bereits das zweite? Lag dahinter vielleicht die Antwort, dass der Uhu durchaus eine Gewalthemmung gegenüber Frauen empfand? Dann musste eine solche Hemmung aber zweitrangig sein gegenüber seinem Bedürfnis, zu töten. Wenn dieser Täter die Wahl hatte, gar nicht zu töten oder eben eine Frau zu ermorden – Delamotte hatte das starke Gefühl, die Antwort gerade gefunden zu haben.

Jakubowski! Schlagartig fiel Delamotte der Mann ein, den er frühmorgens am Tatort gesehen hatte. Der Mann, den er am liebsten nie wieder sehen würde. Dirk Jakubowski, Journalist, der erste Mann beim „Blitz“, wenn es um Kriminalität ging; und um Gerichtsverfahren. Manchmal auch um Politik, besonders dann, wenn es um die Schnittmenge aus Politik, Justiz und Kriminalität ging. Jakubowski, der offenbar einen Narren an Delamotte gefressen hatte, bereits damals, bei der Chinesensache.
Stegmayer hatte ihn gut ein halbes Jahr zuvor eingestellt, nach mehreren Gesprächen und einer Pause von solcher Länge, dass Delamotte die Hoffnung bereits aufgegeben hatte.
Pesch hatte rasch seine Unterstützung angefordert bezüglich einer Reihe von Verbrechen, auf die der Hauptkommissar sich keinen Reim hatte machen können. Delamotte zunächst auch nicht.
Mit Rückendeckung Peschs hatte er die Fälle dann mit seinen amerikanischen Freunden diskutiert, in ihrer gemeinsamen Chatgruppe. Melissa Valdez und Charlie Fontenot hatten die ersten Hinweise gegeben auf das, was sie schon bald das „verbindende chinesische Element“ an den Fällen nennen sollten. Delamotte hatte während und nach der Arbeit am Chinesenfall immer wieder betont, dass die Lösung vielleicht seinem guten Netzwerk zu verdanken gewesen war, keinesfalls aber einer wie auch immer gearteten Genialität, von Magie ganz zu schweigen.
Einige Wochen vor dem Prozessbeginn waren dann zwei Mitarbeiter des Landeskriminalamts in seinem Büro erschienen, hatten ihn befragt über seine familiäre Situation – Partnerin, Eltern, Geschwister. Delamotte hatte die beiden nach dem Grund ihrer Neugierde gefragt, und eine ziemlich kalt und bürokratisch klingende Antwort erhalten: „Bedrohungslage.“
Erst durch den Anblick der aktuellen Ausgabe des „Blitz“, die einer der Beamten auf seinen Schreibtisch gelegt hatte, war ihm die Bedeutung dieses Wortes klargeworden. Delamotte hatte sein Foto gesehen, auf Seite 1, eingebettet in einen Artikel mit dem Titel: „Der Seher vom Berliner Platz“. Der Artikel hatte viele Details enthalten, von seiner Herkunft aus Bliesfeld über sein Studium in Amerika („bei dem namhaften FBI-Profiler Ray Greene“) bis hin zu seiner Partnerschaft mit einer hochintelligenten Biologin. Wesentlicher Inhalt des Artikels waren jedoch sein angeblich zentraler Beitrag zur Lösung des Chinesenfalles gewesen, sowie die enorme Bedeutung seiner Aussage im anstehenden Prozess.
„Und jetzt rate mal, was manche Freunde der Angeklagten sich gerade so überlegen“, hatte einer der Beamten gesagt, und dabei geklungen als hätte Delamotte den Artikel selber geschrieben.
Die Männer vom LKA hatten schließlich entschieden, dass nicht nur Delamotte selbst besonderen Schutz benötige, sondern auch seine komplette nähere Familie: Sonja, seine Eltern, seine Geschwister, sogar die beiden noch lebenden Großeltern. Auf ihre Frage nach etwaigen Fremdsprachenkenntnissen hatte er darauf verwiesen, dass die Delamottes alle leidlich gut Französisch sprachen. Einer der Beamten hatte zufrieden genickt: „Die Kollegen in Frankreich sind in solchen Dingen besonders zuverlässig.“
Und so hatten acht Personen aus Deutschland zwei Ferienhäuser auf der Île de Ré bezogen, knapp zwei Monate vor Beginn der Hauptreisezeit. In einem dritten Haus hatten sich mehrere französische Sicherheitsbeamte einquartiert. Und es war sicherlich nicht deren Schuld gewesen, dass in der Reisegruppe keine echte Urlaubsstimmung hatte aufkommen wollen. Lediglich Opa Jacko hatte die Zeit angegangen wie ein Abenteuer. Delamottes Beziehung mit Sonja dagegen hatte damals die ersten Risse abbekommen. Insbesondere seiner Großmutter mütterlicherseits, ohnehin nicht von bester Gesundheit, hatte es überhaupt nicht gut getan, aus ihrer täglichen Routine gerissen zu werden.
Erst nach Delamottes Aussage im Prozess hatten die Vertriebenen einer nach dem anderen wieder in ihr gewohntes Leben zurückkehren können. Und knapp ein Jahr später war Johanna Morenhoven – Oma Hanni – dann verstorben. Und für Delamotte war es eindeutig, dass die große Belastung des Vorjahres bei ihrem Tod eine wesentliche Rolle gespielt hatte. Und somit auch der Artikel, der diese Belastung ausgelöst hatte.
Den Artikel geschrieben hatte ein gewisser Dirk Jakubowski. Und zu allem Überfluss hatte der auch noch mehrmals angedeutet, der im Artikel umfassend zitierte Hauptkommissar Pesch habe Delamotte ganz alleine in den Polizeidienst geholt.
Delamotte dachte zurück an seine kurze Einkehr in der Klosterkirche von Vernay. Vielleicht, so dachte er, hätte er auch um Unterstützung bitten müssen bei dem Versuch, etwas Verständnis für Dirk Jakubowski entwickeln zu können. Aber nein, musste er erkennen, eine solche Bitte wäre nicht von Herzen gekommen.
Er blickte auf die Uhr – eigentlich war es noch ein wenig zu früh für ein Glas Wein. Andererseits hatte er nach der Heimkehr einen georgischen Weißwein aus dem Keller geholt und kaltgestellt, der nun die richtige Temperatur haben müsste. Als er in der Küche den Rkatsiteli entkorkte, kam ihm ein Gedanke, der seine Stimmung ein bisschen aufhellte. Niemals würde er in einem Gebet darum bitten, weniger zu trinken. Denn das wäre eine ziemlich dreiste Lüge; und Gebete und Lügen passten nun wirklich nicht zusammen.

„Es war also mit Sicherheit wieder der Uhu“, sagte Pesch.
Delamotte, Marino und Lüttges hatten auch kein anderes Ergebnis des ballistischen Befundes erwartet.
„Haben wir irgendwas neues über das Opfer?“, fragte Pesch in Richtung Lüttges.
„Sie betreibt seit sieben Jahren einen Schönheitssalon in Teligrath, ganz in der Nähe der Fernsehstudios“, antwortete der schlaksige Kommissar, „und Anfang des Jahres hat sie einen zweiten Salon eröffnet, diesen in Galgenwardt. Insgesamt hat sie fünf Angestellte, gutgehendes Geschäft offenbar.“
Delamotte warf ein: „Also wieder mal eine Selbständige.“
Pesch fragte nach: „Was meinst du damit?“
Der Psychologe wurde konkreter: „Manni und ich haben schon am Karfreitag darüber gesprochen.“
Lüttges nickte.
„Wenn wir Dr. Ernsting ausklammern, haben wir als Opfer einen Malermeister, den Inhaber einer Versicherungsagentur, einen Makler. Und jetzt die Betreiberin von zwei Schönheitssalons. Alle vier selbständig – und mit ziemlich vielen Kundenkontakten.“ Er hielt kurz inne, bevor er fortfuhr: „Und die Daten von solchen selbständigen Dienstleistern kann sich jeder leicht beschaffen. Sie schalten Anzeigen, stehen vielleicht in den Gelben Seiten, haben eine Internetseite oder sowas. Da braucht es keinen Zugriff auf Verkehrssünderdaten oder andere, nur einem eingeschränkten Personenkreis zugängliche Systeme.“
„Apropos“, sagte Pesch, „wie sieht es denn damit aus? Was für ein Fahrverhalten hatte die Dame?“
Lüttges nahm einen Ausdruck zur Hand: „Ein paar Bußgeldbescheide in den letzten Jahren, nicht übermäßig viele, und alles im Bagatellbereich.“
„Kann der Lebensgefährte vielleicht noch was beitragen?“, wollte Marino wissen.
„Müssen wir sehen“, antwortete Pesch, „Jutta und Niclas sind gerade bei ihm im Krankenhaus. Die Ärzte wollen ihn noch ein paar Tage dabehalten, er wird wohl mit Beruhigungsmitteln behandelt.“
Marino nickte: „Das ist ja auch kein Wunder, das ginge uns in so einer Lage nicht anders. Mir zumindest nicht.“
Lüttges ergänzte: „Auf jeden Fall leben die beiden seit zwei Jahren zusammen, der Mann arbeitet im Kraftwerk Berschweiler. Das Haus gehört übrigens ihr.“
Peschs Handy brummte; er sprach eine Zeit lang und machte sich ein paar Notizen.
„Das war Jutta“, erzählte er nach dem Ende des Gesprächs, „der Lebensgefährte war gesprächsbereit, aber was er sagen konnte bringt uns wohl kaum weiter. Die beiden haben sich vor knapp drei Jahren im Urlaub kennengelernt, er stammt eigentlich aus der Nähe von Karlsruhe. Nachdem er den Job in Berschweiler gefunden hatte, ist er zu ihr gezogen.“
Delamotte wunderte sich – hatte die Frau vorher das ganze Haus alleine bewohnt? Er behielt die Frage für sich; für die Ermittlung spielte sie vermutlich keine Rolle.
„Becker war, wie wir bereits wussten, beim Junggesellinnenabschied einer engen Freundin“, fuhr Pesch fort, „ihr Partner war noch wach, hörte das Auto kommen. Als sie nach einigen Minuten noch nicht reingekommen war, ging er raus, um nachzugucken, und fand ihre Leiche vor der Garage.“
„Da war ihr Mörder schon längst weg“, vermutete Delamotte.
„Zumindest hat ihr Partner niemanden gesehen“, bestätigte Pesch, „und auch in den Wochen vor dem Mord ist ihm niemand aufgefallen.“
Lüttges gab zu bedenken: „Sie war sicherlich einen guten Teil ihrer Zeit in den beiden Salons – wir sollten also auf jeden Fall morgen mal die Mitarbeiterinnen befragen, vielleicht haben die ja was ungewöhnliches beobachtet.“
Marino blickte Delamotte an: „Hättest du damit gerechnet, dass der Uhu eine Frau umbringen würde?“
Delamotte schüttelte den Kopf: „Nein – und um ehrlich zu sein, ich habe mir nicht mal die Frage gestellt, ob er das tun würde.“ Der Psychologe stand auf, ging zum Fenster, blickte kurz hinaus und drehte sich um. Die anderen schauten ihn an. Er erklärte: „Die meisten klassischen Serienmörder sind bei der Wahl ihrer Opfer auf ein Geschlecht fixiert – die meisten auf Frauen. In sehr seltenen Fällen haben sie es auf Paare abgesehen – sehr selten, wie gesagt, das Risiko ist ja auch deutlich höher.“
„Bei männlichen Opfern wahrscheinlich auch“, meinte Lüttges.
Delamotte nickte: „Zum einen das, und wie das Gros der Bevölkerung sind die meisten Serienmörder heterosexuell.“ Er setzte sich wieder: „Bei diesem Vogel ist aber einiges anders; sexuelle Motive sehe ich bei ihm gar nicht.“
Pesch erinnerte sich: „Das hast du, glaube ich, auch im Profil schon so geschrieben, oder?“
Delamotte bestätigte: „Ganz genau. Er nimmt sich keine Souvenirs oder Trophäen mit, er bleibt nicht mal ein paar Augenblicke am Tatort.“ Sein Gesicht verdunkelte sich: „Er tötet. Und dass er jetzt eine Frau getötet hat, weist darauf hin, dass es ihm wirklich nur um das Töten geht. Ob das Opfer groß oder klein, dick oder dünn, jung oder alt ist – oder eben männlich oder weiblich. Es ist ihm egal. Er tötet.“
Delamotte wartete einen Augenblick, damit die anderen den Gedanken sacken lassen konnten: „Und was der eigentliche Grund für sein Tun ist – ich muss zugeben, es ist mir immer noch völlig unklar.“

Er schüttelte den Kopf, verwundert und zugleich amüsiert. Die Sonntagsausgabe des „Blitz“ machte mit seinem jüngsten Werk auf, und sogar die Regionalnachrichten im Fernsehen behandelten den Fall. Anfangs hatte es ihm missfallen, als Uhu tituliert zu werden. Doch inzwischen war ihm dieser Name fast ein wenig ans Herz gewachsen. Er klang geheimnisvoll – was hätte Malin wohl von diesem Namen gehalten? Streng genommen war sie doch zumeist viel geheimnisvoller gewesen als er selber; geheimnisvoll und zauberhaft.
Und ein wenig mochte auch diese Aura des Mysteriösen dazu beitragen, mit welchem Entsetzen die Medien den Umstand vermeldeten, dass dieser geheimnisvolle Uhu nun sogar eine Frau getötet hatte. Als ob das Geschlecht in diesem Punkt irgendeinen Unterschied machte. Zugegeben, noch vor kurzem hatte er selber ganz ähnlich gedacht. Und er war stolz auf sich, dass er diesen altmodischen Impuls überwunden hatte. Vielleicht musste er diesem Mann mit dem bekannten Namen, diesem grauen und öden Langweiler, der nichts als Wohnung, Arbeitsplatz, Supermarkt und Fitnessclub kannte, ein Stück weit dankbar sein. Seinetwegen hatte er neue Pfade betreten – hatte der Mann sich damit vielleicht sogar das Weiterleben verdient? Es mochte so sein.
Ansonsten war der Vorgang kein bisschen anders abgelaufen als seine vorherigen Werke. Bestenfalls ein wenig einfacher, dank der schnatternden Schwatzhaftigkeit der Frau. Und im Gegensatz zu den Medien wusste er natürlich ganz genau, warum diese Anita Becker hatte sterben müssen. Nein, er hatte ein reines Gewissen. Sein Blick fiel auf das Bild, das in einem Rahmen auf seinem Schreibtisch stand. Es war das letzte Foto, das ihn mit Malin und den Jungs zeigte.