II.

Der metallicblaue Citroën Xsara rollte sanft über die Autobahn. Delamotte dachte nach. Peschs Anruf hatte ihn beim Abendessen überrascht, pünktlich zum Dessert. In seiner Stimme hatte etwas Bittendes, fast schon Bettelndes gelegen. Etwas war an diesem Gründonnerstag geschehen, und Pesch hatte Delamotte gebeten, seinen Kurzurlaub abzubrechen und ihn am Karfreitag um zehn Uhr im Präsidium zu treffen.
„Ich brauche deine Hilfe“, hatte Pesch gesagt.
Delamotte runzelte die Stirn; er konnte sich nicht erinnern, wann Pesch ihn das letzte Mal um Hilfe gebeten hatte – wenn überhaupt. Am Abend hatte Delamotte der Versuchung widerstanden, im Internet zu suchen, was wohl der Grund für Hauptkommissar Peschs Zustand war. Stattdessen hatte er sich mit einer Flasche Wein – einer kleinen Flasche, wohlgemerkt, ein Viertel hatte er ja bereits zum Abendessen getrunken – die nötige Bettschwere verschafft. Am Morgen hatte er in aller Ruhe das exquisite Hotelfrühstück genossen und dann, zwei Tage früher als geplant, ausgecheckt.
Als er schließlich auf dem Marßener Ring ankam, bekam Delamotte einen Hinweis, warum Pesch so sehr unter Druck gewirkt hatte. Auf einer der großen Tafeln, mit denen der „Blitz“, die große Boulevardzeitung der Stadt, jeden Besucher Marßens begrüßte, las er die Schlagzeile der aktuellen Ausgabe: „Mord vor Krankenhaus – war es der Uhu?“ Falls das mehr als reine Spekulation war, hatte Pesch einigen Grund zu Sorge. Der Uhu – den Namen hatten sich die Journalisten ausgedacht, als im Sommer und Herbst des Vorjahres drei Männer ermordet worden waren. Jeweils nach Einbruch der Dunkelheit, jeweils mit einem präzisen Kopfschuss. Und jeweils ohne Zeugen, ohne wirklich substantielle Spuren am jeweiligen Tatort. Aber immer mit der gleichen Waffe. Viel mehr wusste Delamotte nicht, Pesch hatte weder ihn noch Marino in die Ermittlungen einbezogen.
Er überquerte den Fluss, und nahm am Heppeler Dreieck den südöstlichen Zubringer Richtung Grafenwyk und Neu-Marßen. Der dritte Mord des Uhus war Mitte Oktober geschehen – danach war der mysteriöse Schütze von der Bildfläche verschwunden. Und als er auch nach dem Jahreswechsel nicht wiederaufgetaucht war, war am Berliner Platz eine Theorie aufgekommen, der auch Pesch anhing: der Uhu, so die Annahme, musste wohl ein aus dem Ausland nach Marßen geholter Auftragskiller sein. Delamotte hatte mit dieser Theorie von Beginn an nichts anfangen können; ein Profi, so glaubte er, würde wohl kaum dreimal die gleiche Waffe einsetzen. Zudem schien es ihm in keinem der drei Fälle signifikante Hinweise auf ein Mordmotiv zu geben, sofern er dies aus der Ferne überhaupt beurteilen konnte.
Delamotte kreuzte den Boulevard, bog wenig später links ab auf die Potsdamer Straße, und erreichte rasch den Berliner Platz. Der neoklassizistische Prachtbau, in dem sich das Polizeipräsidium befand, lag am östlichen Ende des Platzes. Delamotte fuhr auf die in der Mitte des Karrees gelegene Parkfläche, die den Beschäftigten der vielen ansässigen Behörden vorbehalten war. Er blickte auf die Uhr – dank des spärlichen Feiertagsverkehrs war er überraschend flott am Präsidium angekommen.

Den Aufzug im unlängst modernisierten Foyer links liegen lassend, ging Delamotte den langen Flur im Erdgeschoß entlang, vorbei an überwiegend leeren Büros, und nahm am Ende des Ganges den alten Paternoster. Im dritten Stock stieg er aus. Hier oben war die Modernisierung noch nicht angekommen, der alte Parkettboden hatte schon bessere Zeiten gesehen und vieles wirkte, wenn auch nicht wie aus der Preußenzeit, so doch reichlich altbacken.
Pesch kam ihm im Quergang entgegen. „Markus, grüß dich – danke, dass du es einrichten konntest, so schnell herzukommen“, sagte er. „Ich geh mir noch einen Kaffee holen – magst du auch einen?“
Delamotte lehnte dankend ab, mit Automatenkaffee konnte man ihn jagen.
Pesch grinste: „Dann geh doch schon mal vor in mein Büro.“
Die Büros des Dezernats für Kapitalverbrechen lagen in einem der ruhigsten Teile des Gebäudes, nach hinten raus, weit weg vom Verkehrslärm am Berliner Platz. Wobei dies an einem Feiertag wohl keinen großen Unterschied machte.
Delamotte betrat Peschs Büro – er war schon recht oft hier gewesen, aber gefühlt hatte er zum ersten Mal die Gelegenheit, die Persönlichkeit des Raumes auf sich wirken zu lassen.
Peschs Schreibtisch sah sehr ordentlich aus, gut organisiert, fast schon penibel. Es gab keine Pflanzen im Zimmer, was Delamotte nicht unsympathisch war, er selber hatte auch keinen grünen Daumen. Das hellgraue Sakko des Hauptkommissars hing, ordentlich auf einen Bügel drapiert, am Kleiderständer neben dem Aktenschrank. An der Wand hingen einige Fotos, die Delamotte bislang allenfalls beiläufig bemerkt hatte. Überwiegend Familienbilder, Peschs Frau und seine beiden Töchter – mal im Garten, mal an verschiedenen Urlaubsorten. Ein anderes Foto zeigte Pesch in Lederkluft, auf einem schweren Motorrad, breit lächelnd. Delamotte stellte zu seiner Überraschung fest, dass Pesch dieses Lächeln richtig gutstand.
Er widmete seine Aufmerksamkeit einem etwas größeren Bild an der gegenüber liegenden Wand – eine sehr gut erhaltene Burg, mit gezackten Zinnen auf Mauern und Turmkrone, vor einem ziemlich imposanten Bergpanorama. Delamotte überlegte: das müsste in den Alpen sein, er tippte auf Südtirol.
„Malcesine.“
Der plötzliche Klang von Peschs dunkler Stimme ließ Delamotte zusammenzucken – ein wenig schuldbewusst drehte er sich zur Tür, sah im leicht bulligen Gesicht seines Gegenübers jedoch wieder ein keinesfalls unfreundliches Lächeln.
„Am Ostufer des Gardasees“, erklärte Pesch, „eine sehr schöne Gegend, und ganz besonders, wenn man mit dem Motorrad unterwegs ist. Wir waren vor knapp zwei Jahren da.“
Er setzte sich hinter seinen Schreibtisch, nahm einen Schluck Kaffee und bot Delamotte mit einer Geste den Stuhl gegenüber an. „Weißt du schon, worum es geht?“
Delamotte nickte langsam: „Ich habe zumindest eine Ahnung – es ist der Uhu, nicht wahr?“
Pesch wirkte überrascht: „Woher…“
„Die Willkommenstafeln am Ring“, erklärte Delamotte.
„Der ‘Blitz’, natürlich“, sagte Pesch, „keine Ahnung wie die Burschen darauf gekommen sind, von uns haben sie es nicht. Nachrichtensperre. Andererseits, die Tatumstände…“ Er sprach den Gedanken nicht weiter.
„Wie sicher sind wir?“, wollte Delamotte wissen.
Pesch wog den Kopf hin und her: „Sicher noch gar nicht, das ballistische Gutachten steht noch aus. Aber verdammt vieles passt: Dunkelheit, keine Zeugen, präziser Kopfschuss. Das gleiche Kaliber wie bei den drei Morden im letzten Jahr. Und ein Opfer, bei dem ich keinerlei Mordmotive erkennen kann. Gar keine, wenn du verstehst, was ich meine.“
Delamotte blickte aufmerksam, während Pesch weitersprach: „Unfallchirurg am Krankenhaus in Zievelsburg, guter Ehemann und Vater, beliebter Kollege und Nachbar – das ist zumindest der erste Eindruck.“ Pesch blickte Delamotte aus seinen hellblauen Augen an: „Wenn es der Uhu ist – nun, dann können wir die Theorie vom Auftragskiller wohl aufgeben. Dann haben wir es hier mit etwas ganz anderem zu tun. Und dann brauche ich dich – deine Erfahrung, deine Intuition, deine Fähigkeit, um die Ecke zu denken.“ Abermals lächelte er: „Gerne auch um mehrere Ecken, wenn es sein muss.“
Delamotte sprach langsam: „Wenn er es ist…“ Er zählte auf: „Ich werde alles brauchen, was ihr habt. Ich muss die Tatorte sehen, das Umfeld, alles Verfügbare über die Opfer. Angewohnheiten, tägliche Routinen, Kontakte. Wenn es der Uhu ist… Irgendwo und irgendwie ist er auf seine Opfer aufmerksam geworden, und irgendwas haben sie gemeinsam – etwas, das den Trigger in ihm ausgelöst hat.“
Pesch ließ sich einen Augenblick Zeit: „Alles was du brauchst, Markus. Wenn der Uhu zurückgekommen ist, müssen wir ihn so schnell wie möglich kriegen. Lüttges steht dir zur Verfügung, er ist von Anfang an dabei gewesen, keiner kennt die Details der Fälle so gut wie er.“ Er blickte auf die Uhr und stand auf: „Die anderen werden bereits im Besprechungsraum sein – es kommt zwar selten vor, aber ich fürchte wir beide kommen zu spät.“

Der Besprechungsraum lag in einem Seitenflügel des Gebäudes, das bei seiner Errichtung 1837 der Königlich-Preußischen Finanzdirektion ein standesgemäßes Heim geboten hatte. Aus den hohen Fenstern überblickte man einen kleinen Park, auf dessen Bänken sich einige Generationen preußischer Finanzbeamter vom mangelnden Staatssinn der westlichen Untertanen des Hauses Hohenzollern erholt hatten. Mitte der 1930er Jahre war der stattliche Bau dann zum Polizeipräsidium umfunktioniert worden – schließlich hatte die Polizei nun zusätzliche Arbeit mit Delikten, die erst durch die neuen Machthaber zu solchen geworden waren.
Für die sieben anwesenden Personen war der Raum eigentlich überdimensioniert. Aber das war in Marßen nichts ungewöhnliches, sinnierte Delamotte – ein Hang zur Überdimensionierung gehörte fast schon zur DNS dieser Stadt.
Pesch nahm am Kopfende Platz und entschuldigte sich für die Verspätung. Delamotte blickte auf seine Armbanduhr – drei Minuten, meine Güte… Aber so war eben Pesch, für ihn war Unpünktlichkeit etwas sehr Unhöfliches, wie er Delamotte schon vor längerer Zeit mal erklärt hatte. Um genauer zu sein: als Delamotte selbst zum ersten Mal verspätet zu einem Termin mit Hans-Jakob Pesch erschienen war.
Er selbst nahm sich einen Stuhl und setzte sich an die Ecke des Tisches – eine etwas ungewöhnliche Wahl, vermeintlich unbequem, aber von hier aus konnte er allen anderen Beteiligten am besten ins Gesicht blicken.
Lüttges nickte ihm zu – Kommissar Manfred Lüttges musste um die 45 sein, wirkte aber deutlich jünger, oder besser: jungenhaft. Er war über Eins Neunzig groß und ziemlich schlaksig, was ihm etwas Ungelenkes gab. Manchen im Präsidium galt der ruhige Blondschopf als Peschs Schattenmann – Delamotte kannte ihn von einem gemeinsamen Einsatz her und wusste, dass Lüttges ganz im Gegenteil ein eigenständiger Denker und sehr präziser Beobachter war.
Die beiden anderen Ermittler im Raum waren Jutta Maas, mit der Marino angeblich mal etwas gehabt hatte, und Niclas Henseler, einer der jüngsten Mitarbeiter im Dezernat, der sein vergleichsweise geringes Alter hinter einem Dreitagebart zu verbergen suchte. Beide kannte Delamotte bisher allenfalls flüchtig.
Komplettiert wurde die Runde von der Kriminaltechnikerin Sabine Greven, deren Erscheinungsbild – sehr gepflegt, schicke Kleidung, lange blonde Haare, tief gebräunt – einen oberflächlichen Beobachter zunächst an eine Kosmetikerin hätte denken lassen können. Wer sie kannte, und zu diesem Personenkreis konnten sich alle Teilnehmer der Besprechung zählen, wusste aber, dass sich hinter der Fassade eine akribische und unermüdliche Spurensucherin verbarg, die für ihre Einsatzbereitschaft auch schon manchen persönlichen Preis gezahlt hatte.
Und schließlich saß auch Professor Emil Gustavsson, seines Zeichens leitender Gerichtsmediziner der Stadt, am Tisch.
Pesch räusperte sich und beugte seinen etwas wuchtigen Körper nach vorne: „Wir alle haben jetzt ein paar Stunden Zeit gehabt, den Eindruck über das, was in Zievelsburg passiert ist, sacken zu lassen. Ich für meinen Teil denke, wir werden einige Dinge neu beurteilen müssen.“
Er nickte in Delamottes Richtung: „Ihr alle wisst, wer Markus ist – Manni kennt ihn am besten, daher wird er auch ziemlich viel mit ihm zu tun haben in nächster Zeit.“ Er blickte Maas und Henseler an: „Ihr Beiden natürlich auch – Markus hat uns in den letzten Jahren bei so manchem kniffligen Fall mitentscheidend geholfen, und ich fürchte, das hier – der ganze Komplex seit Ende Juli – ist so ein kniffliger Fall.“
„Die Auftragskiller-Theorie wird also begraben?“ Delamotte sah Henseler an, in dessen Frage nichts Feindseliges, aber doch eine Spur von Skepsis gelegen hatte.
Pesch schüttelte den Kopf: „Du bist schon lange genug hier, Niclas, um zu wissen, dass Ansätze bei uns nicht so schnell begraben werden.“
Die leichte Rüge war Henseler nicht entgangen, er lächelte gequält, während Pesch fortfuhr: „Was mich betrifft – bei mir überwiegt inzwischen der Zweifel, ob es sich beim Uhu um einen Profikiller handelt.“
„Er könnte einfach einen neuen Auftrag bekommen und ausgeführt haben.“ Delamotte erkannte, dass sich Henseler so leicht nicht geschlagen gab. Das gefiel ihm.
Pesch blieb überraschend geduldig: „Bereits bei den ersten drei Opfern mussten wir schon sehr tief graben, um auch nur die Spur eines möglichen Mordmotivs zu finden. Bei Dr. Ernsting ist das – so ist zumindest mein erster Eindruck – noch schwerer.“ Er hob leicht die Stimme: „Das heißt nicht, dass wir diese alte These komplett vergessen; aber im Moment liegt sie auf Eis.“
Maas runzelte die Stirn: „Sind wir denn sicher, dass es überhaupt der Uhu war?“ Pesch wollte die aufkommende Diskussion nicht ausarten lassen: „Ich will der Ballistik nicht vorgreifen, aber: es passt einfach verdammt viel.“
„Aber nicht alles…“ Wie fast immer hatte Lüttges sehr leise gesprochen, doch Pesch ging direkt darauf ein: „Korrekt, Manni, nicht alles – aber eben doch sehr vieles.“
Er ließ seinen Blick über die Runde schweifen: „Und von daher: solange das Gutachten nicht etwas ganz anderes ergibt, ist die Arbeitshypothese: ja, der Mord in Zievelsburg war die vierte Tat des Uhu. Und nein, der Uhu ist kein Profikiller.“ Der Hauptkommissar sah in Delamottes Richtung, in seinem Blick lag etwas beinahe schon Verletzliches: „Er ist – was auch immer er ist, etwas anderes…“
Einen Augenblick lang herrschte Stille, alle Anwesenden schienen das Bedürfnis zu haben, einen Moment innezuhalten – beinahe so, als ob jeder seinen inneren Reset-Knopf drücken musste. Dann ging ein Ruck durch Pesch, er schaute Gustavsson an: „Herr Professor, was können sie uns bis jetzt sagen?“
Der Gerichtsmediziner nickte ein paarmal, bevor er wie üblich recht langsam und bedacht zu reden begann: „Nun, das Wesentliche ist Ihnen ja schon bekannt. Für die Todesursache und den Zeitpunkt brauchten Sie eigentlich keine Gerichtsmedizin.“ Auch nach gut dreißig Jahren in Marßen war bei Emil Gustavsson noch ein Rest skandinavischen Akzents hörbar, gemischt mit dem für die Stadt und ihr Umland charakteristischen Singsang. „Da Sie eben von Dingen gesprochen haben, die ähnlich wie bei den vorgelagerten Fällen sind - oder eben auch anders.“
Alle anderen am Tisch schauten auf.
Er fuhr fort: „Alles deutet darauf hin, dass der Täter dieses Mal aus ziemlich geringer Entfernung geschossen hat – und nicht von der Seite oder von hinten, sondern frontal.“
Jutta Maas war die erste, die den Gedanken aussprach: „Das heißt, das Opfer hat den Täter gesehen?“
Gustavsson stimmte ihr zu: „Davon müssen wir ausgehen, ja.“
„Aber er hat offenbar keine Abwehr- oder Fluchtreaktion gezeigt. Vielleicht hat er ihn ja gekannt“, warf die Kommissarin ein.
Delamotte hielt dem prüfenden, fast schon herausfordernden Blick aus den intensiv grünen Augen stand, die mit Maas‘ sehr hellem Teint und den kurzen schwarzen Haaren harmonisierten. Einen kurzen Moment lang streifte ihn der Gedanke, er könne Marino gut verstehen – sollte an den Gerüchten über seinen Kumpel und Maas etwas dran sein. Er sammelte sich rasch, nickte – ihren Einwurf verstehend, aber nicht zustimmend: „Die Erklärung kann noch einfacher sein – der Täter hat bei Dr. Ernsting kein Gefühl von Bedrohung ausgelöst.“
Delamotte stand auf – es fiel ihm wesentlich leichter, komplexe Gedanken zu fassen und zu formulieren, während er ein wenig auf- und abging: „Es ist nachts, du bist auf einem dunklen Parkplatz. An einem Krankenhaus. Du bist Arzt, auf dem Weg zu einer OP. Du bist hellwach, alle deine Sinne und Instinkte sind geschärft. Und jemand kommt auf dich zu.“ Er spürte die Blicke der anderen fast körperlich. „Wir alle wissen doch genau, welche Art von Personen bei anderen Bedrohungsgefühl oder sogar Fluchtreflexe auslösen. Wenn der Täter nun ein junger Bursche in Kapuzenpulli und Sonnenbrille wäre“, sagte er und blickte zu Henseler, „und dann vielleicht noch mit Dreitagebart…“
Sein Blick streifte Maas, in ihren Augen lag nichts Herausforderndes mehr.
Delamotte setzte sich wieder: „Kurz gefasst: der Uhu trägt weder Kapuzenpulli noch Bomberjacke, er hat keinen Irokesenschnitt oder sonstige Merkmale, die von der allgemeinen Norm abweichen. Kein Rauschebart aus dem Nahen Osten, kein Glatzkopf aus Sibirien oder Marzahn. Trägt vielleicht Anzug wie Pesch, oder Jeans und Sakko wie ich. Ein Durchschnittstyp – einer, der nirgendwo auffällt. Einer, vor dem niemand auf Anhieb Angst hat. Einer, wegen dem niemand die Straßenseite wechselt.“
Er stand noch einmal auf, fast schien es als ob der Moment der Tat von ihm Besitz ergriff. „Und nun nähert er sich dem Opfer, das keinerlei Gefahr verspürt. Und dann…“ Delamotte hob den linken Arm, als wollte er selber schießen. „Das Opfer erkennt vermutlich nicht mal, was dieser zwar fremde, aber völlig normal wirkende Mann in der Hand hält.“ Er ließ den Arm wieder fallen. „Und dann geht alles sehr schnell.“
„Und sehr präzise, das wissen wir auf jeden Fall“, ergänzte Gustavsson. Delamotte nahm wieder Platz.
„Wow“, entfuhr es Henseler unwillkürlich. Der junge Kommissar hatte Delamotte noch nie in Action gesehen, und Pesch fiel es schwer, ein Grinsen zu unterdrücken. Ja, das war Delamotte – zumindest war das ein Teil von ihm; jener Teil, der Hans-Jakob Pesch vor über drei Jahren dazu bewogen hatte, sich bei Stegmayer den Mund fusselig zu reden, um diesen etwas ungewöhnlichen Typen in das Dezernat zu bekommen. In letzter Zeit hatten Pesch manches Mal Zweifel befallen, ob sein Engagement für Delamotte eine lohnenswerte Investition gewesen war. Wirklich bereut hatte er seine damalige Entscheidung aber noch nie, wenn er es nüchtern betrachtete. Jetzt, konfrontiert mit einem Mörder, der eben doch etwas schwerer zu lesen war als ein simpler Auftragskiller, war er froh, den Psychologen mit an Bord zu haben.
Die Runde hatte sich wieder etwas gefangen, Delamotte saß mit undurchdringlichem Gesichtsausdruck auf seinem Stuhl, leicht zusammengesunken. Pesch blickte in Sabine Grevens Richtung: „Wie sieht es denn mit Funden am Tatort aus?“
Die Kriminaltechnikerin schüttelte enttäuscht den Kopf: „Nichts. Natürlich, jede Menge Kleinkram, aber nichts, was direkt dem Täter zuordbar wäre, geschweige denn zu ihm führen könnte. Klar, wir analysieren das Zeug, wir halten es bereit als mögliches Beweismaterial, falls wir den Kerl irgendwann mal erwischen.“ Sie schaute auf: „Aber einen Beitrag dazu, dass wir ihn erwischen, können wir mit dem Zeug nicht leisten. Es ist wie es ist: vier Tatorte, und alles was wir haben sind ein paar Projektile und ein Hustenbonbon.“
Delamotte erwachte aus seiner Lethargie: „Hustenbonbon?“
Greven bestätigte: „Ja, am zweiten Tatort. Um genau zu sein: ganz in der Nähe, auf dem Weg zu einem Parkplatz, an dem der Täter vermutlich sein Auto geparkt hatte.“
Delamotte schien nicht ganz überzeugt zu sein: „Und Ihr glaubt, das Bonbon wäre vom Uhu?“
„Zeitlich würde es sehr gut passen“, erklärte die blonde Kriminaltechnikerin, „bis kurz zuvor hatte es sehr stark geregnet – hätte jemand das Bonbon vorher verloren, wäre es in den Gully gespült worden.“
„Und warum sollte der Täter das Bonbon dort verloren haben?“, hakte Delamotte nach.
Greven antwortete geduldig: „Ich glaube, er hatte es vor der Tat in seine Jackentasche gesteckt, fein säuberlich in Papier gewickelt – oder eher in dünne Pappe. Und als er die Waffe nach der Tat in die gleiche Jackentasche steckte, wurde das Bonbon nach oben gedrückt und rutschte dann ein paar Schritte weiter ganz raus.“
Pesch bedankte sich bei Greven – er war sicher, dass Delamotte in den nächsten Tagen von selber das Gespräch mit der Kriminaltechnikerin suchen würde. An ungewöhnlichen Dingen wie diesem eingewickelten Hustenbonbon konnte er selten vorbeigehen.
„Es ist fast ein halbes Jahr vergangen seit dem Mord an Dorn“, sagte Pesch und blickte zu Maas und Henseler: „Jutta, Niclas, findet raus, welche unserer eventuell in Frage kommenden Kunden“ – ein ironisches Lächeln umspielte seine ausgeprägten Lippen – „in der fraglichen Zeit eine Haftstrafe verbüßen mussten, oder zwangsweise in der Psychiatrie waren. Beschränkt euch erst mal auf diejenigen, die mit Schusswaffen vertraut sind. Wenn interessante Kandidaten darunter sind, schließt euch bitte mit Markus kurz.“
Die beiden wollten bereits aufstehen, aber Pesch war noch nicht fertig: „Danach schaut euch bitte auch solche Klienten an, die in den letzten sechs Monaten längere Aufenthalte in Krankenhaus oder Rehaklinik hatten – auch Mörder sind nicht unkaputtbar.“
Dann sprach er Lüttges an: „Wie besprochen, Manni – mach Markus mit allen Einzelheiten der bisherigen Fälle vertraut. Ihr kennt Euch ja schon, wisst also, wie der jeweils andere tickt.“ Das würde beiden helfen, besonders Lüttges, dachte er.
Der Hauptkommissar stand auf: „Also dann, an die Arbeit. Und falls ich euch das Osterwochenende verderbe…“ Er hob entschuldigend die Arme: „Ich begehre, nicht schuld daran zu sein…“
Die Gruppe löste sich auf; an der Tür des Besprechungsraums hielt Pesch Delamotte leicht am Arm fest: „Wenn du irgendeine Witterung aufnimmst, egal wie vage – folge ihr! Wie du siehst: wir haben nicht wirklich viel. Und da draußen…“
Delamotte lächelte: „…da draußen ist ein böser Mann, und den müssen wir fangen.“
Pesch lächelte ebenfalls – zum ersten Mal seit längerer Zeit funkten die beiden wieder auf der gleichen Wellenlänge.

„Ich habe dir mal zusammengestellt, was wir bisher zu den einzelnen Fällen so haben“, sagte Manni Lüttges und überreichte Delamotte vier säuberlich beschriftete Mappen.
Delamotte, der sich gerade auf dem Beifahrersitz von Lüttges‘ A4 angeschnallt hatte, nahm sie entgegen und legte sie auf seinen Schoß.
Lüttges steuerte den Wagen vom Parkplatz in den spärlichen Feiertagsverkehr: „Und nun willst du zuerst wahrscheinlich die Tatorte sehen.“
Delamotte nickte.
„Wie damals bei der Chinesensache“, ergänzte Lüttges.
Delamotte nickte abermals – ja, der Chinesenfall. Er hatte seinerzeit kein Geheimnis daraus gemacht, dass die entscheidenden Hinweise auf die Triaden von einigen seiner amerikanischen Freunde gekommen waren. Trotzdem hatte der Fall seiner noch ganz jungen Karriere am Berliner Platz zu einem Raketenstart verholfen – bis hin zu einem Artikel im „Blitz“, samt dessen unerfreulichen Konsequenzen.
Während sie in Richtung Ost-West-Magistrale fuhren, berichtete der schlaksige Kommissar über das erste Opfer: „Karlheinz Sötenich, 52 Jahre alt, selbständiger Malermeister aus Burbach.“
Delamotte schlug die erste Mappe auf, erblickte das Porträtfoto – auch wenn man Sötenich die Jahre ansah, so wirkte der Blick auf dem Bild doch sehr tatkräftig, entschlussfreudig und vital. Und Delamotte glaubte, einiges an Humor, Schalk und Lebensfreude zu erkennen – dafür sprachen die Lachfältchen um Mund und Augenpartie.
Lüttges erzählte weiter: „Am 28. Juli war Sötenich mit alten Freunden Kegeln – überwiegend Handwerker wie er, sie trafen sich fast jeden Montag im Ramersfelder Hof, einem Lokal am Rand des Parkgürtels. Den Hinweg, gut sechs Kilometer, hat er zu Fuß absolviert – zurück hat er sich dann ein Taxi gerufen.“
Delamotte fühlte sich bestätigt – die sportliche Betätigung passte zu dem Eindruck, den das Gesicht auf dem Foto bei ihm hinterlassen hatte, ebenso wie der Hang zu Geselligkeit, den die regelmäßige Freizeit im Kreis alter Freunde erkennen ließ.
„Wie passte Sötenich denn in die Theorie vom Auftragsmord rein?“, wollte er wissen.
Lüttges verzog leicht das Gesicht: „Nun ja, diese Theorie kam ja erst nach dem dritten Mord so richtig auf. Und Sötenich hatte eine ziemlich hässliche Scheidung hinter sich.“ Der Kommissar setzte den Blinker, um am Dreieck Raggerscheid auf den Ring abzubiegen. „Etwa mit Mitte 40 hatte er eine deutlich jüngere Frau kennengelernt – auch deutlich jünger als seine Gattin, mit der er damals schon seit über 20 Jahren verheiratet war. Die junge Frau wurde rasch seine Geliebte.“
Delamotte entdeckte in der Mappe ein weiteres Foto – es zeigte Sötenich an einer Strandbar, in Begleitung einer attraktiven Brünetten, die in Delamottes Alter sein mochte.
Lüttges nickte: „Ja, das ist sie. Ines Schwandtke, zum Zeitpunkt des Mordes 34. Mitarbeiterin in der Firma eines seiner Freunde. Sötenichs Frau bekam nach etwa zwei Jahren Wind von der Affäre, und versuchte ihren Mann zu einer Entscheidung zu zwingen. Die traf er dann auch.“
„Für die Geliebte, gegen die Frau“, warf Delamotte ein.
„Ganz genau“, erwiderte Lüttges, „und während der Scheidung wurde dann viel schmutzige Wäsche gewaschen. Hauptsächlich von der Anwältin der Frau, Sötenichs Anwältin stellte sich geschickter an. Und wohl auch erfolgreicher, die Frau bekam beileibe nicht, was sie gefordert hatte.“
„Trotzdem ein bisschen dünn für einen Auftragsmord, oder“, merkte Delamotte an.
„Kann man so sagen“, stimmte Lüttges zu, „aber Leute töten manchmal aus den nichtigsten Gründen.“
Delamotte erwiderte: „Das schon, aber in solchen Fällen töten sie eher selber – und das dann zeitnah, und wie lange lag die Scheidung schon zurück?“
Lüttges ersparte ihm die Suche in den Unterlagen: „Fast vier Jahre.“
Der Tatort lag im Süden des Stadtbezirks Burbach, im Ortsteil Holzweiler. Lüttges lenkte den Audi in eine Parkbucht am Straßenrand und stieg aus. Delamotte blickte sich um: eine ruhige Gegend, fast ländlich, überwiegend Einfamilienhäuser mit liebevoll gepflegten Vorgärten.
„Genau hier an diesen Parkbuchten setzte der Taxifahrer Sötenich um 23:28 Uhr ab. Das Haus des Opfers befindet sich da vorne“, sagte Lüttges und wies auf einige verklinkerte Reihenhäuser hin, die sich in etwas mehr als hundert Meter Entfernung befanden. Die beiden Männer gingen langsam in Richtung der Häuserreihe. „Von hier aus gesehen ist es das vorletzte Haus“, sagte Lüttges.
Delamotte blieb stehen – alle Rollläden der Vorderfront waren unten. „Sieht leer aus“, stellte er fest.
Lüttges bestätigte: „Soll verkauft werden. Es gibt aber noch rechtliche Auseinandersetzungen – Sötenich hat seine Lebensgefährtin zur Alleinerbin erklärt, aber nach dem Mord kam recht flott die Anwältin seiner Ex und machte Ansprüche ihrer Mandantin geltend. Auch das hat dazu geführt, dass wir uns die Exfrau dann mal genauer angesehen haben. Aber was Handfestes gefunden haben wir nicht.“
Lüttges und Delamotte blieben im kleinen Vorgarten des Hauses stehen. Der Kommissar erklärte: „Der tödliche Schuss traf Sötenich in den Hinterkopf, als er gerade die Tür aufgeschlossen hatte. Er fiel noch mit dem Oberkörper über die Türschwelle, und so hat seine Partnerin ihn dann gefunden, nachdem sie wegen des Geräuschs aus dem Schlafzimmer nach unten gegangen war.“ Er zeigte in Richtung eines ziemlich großen Kastanienbaums, der am Rand des Nachbargrundstücks stand: „Anhand des Eintrittswinkels des Projektils ist davon auszugehen, dass der Täter dort drüben stand – vermutlich hatte er sich hinter dem Baum versteckt.“
Delamotte ging zu dem Baum, umrundete ihn, blieb an einigen Stellen stehen, und streckte einmal den Arm aus, als wollte er an dem stummen Zeugen Halt suchen. Lüttges war nicht überrascht – er hatte schon einmal mit dem Psychologen zusammengearbeitet und kannte sein manchmal verwirrendes Verhalten.
Delamotte kehrte in den Vorgarten des verlassenen Hauses zurück. „Ich nehme an, die ganzen Details zu dem Fall finden sich in der Mappe“, sagte er. Lüttges nickte. „Gut“, sagte Delamotte, „dann habe ich hier genug gesehen. Wo war der zweite Tatort?“
„Ganz bei dir um die Ecke, in Beyel“, erklärte Lüttges.
Delamotte lächelte, was Lüttges angesichts des Umstands, dass sie sich an einem Tatort befanden, etwas seltsam fand: „In diesem Fall machen wir einen kleinen Umweg über Reven. Ich habe Hunger.“
Der Kommissar blickte dem Psychologen hinterher, der zielstrebig auf das Auto zuging. Seltsam, in der Tat, dachte er.

Angewidert warf der die aktuelle Ausgabe des „Blitz“ auf den Schreibtisch. Er hatte das Blatt an einer Tankstelle in Rödinghausen gekauft, zusammen mit einer Packung Schweizer Bonbons und einer guten halben Tankfüllung. Man konnte ja nie wissen – fast alle Tankstellen hatten mittlerweile Überwachungskameras, aber der beiläufige Kauf einer Boulevardzeitung beim Tanken dürfte keinen Verdacht erregen. Und außerdem lag die Tankstelle weit genug von seinem Wohnort entfernt.
Die Lektüre der diversen Artikel hatte ihn dann aus der Fassung gebracht. Ihm war ein Fehler unterlaufen. Und nicht einfach irgendein Fehler – einer der unverzeihlichen Art. Dabei hatte alles so gut angefangen. Die Karteikarte hatte vielversprechend ausgesehen. Die Aufgabe hatte sich schon am zweiten Tag als lösbar herausgestellt. Alles hatte perfekt gewirkt.
Aber dann war etwas dazwischengekommen, eine unerwartete Wendung, vielleicht hervorgerufen durch ein plötzliches Geräusch, vermutlich eine Stimme. Und dann war die Aufgabe nicht mehr so leicht lösbar, im Gegenteil. Und er hatte Panik bekommen, anstatt einfach Luft zu holen und es nochmal zu versuchen. Stattdessen hatte er sein Scheitern einfach hingenommen, wie schon so oft in seinem Leben – er hatte versagt. Schlimmer noch: im Anschluss, um sein Versagen irgendwie wiedergutzumachen, hatte er sich zu einer spontanen Handlung hinreißen lassen. Dabei war er doch nie ein spontaner Typ gewesen, das hatte Malin ihm schon vor Jahren klargemacht.
Und dieser Ausbruch von Spontanität hatte ein furchtbares Ergebnis erbracht. Das durfte ihm nie wieder passieren. In Zukunft, nahm er sich vor, würde er sich wieder strikt an den Plan halten. Im Planen war er gut, das hatte er schon oft genug bewiesen. Planen war wirklich seine Stärke – auch wenn Malin das nie so ganz geschätzt hatte. Er strich vorsichtig, fast liebevoll, über den alten Karteikasten. Seltsam, dass er dabei wieder an Malin dachte.