Lisl Urban: Eine Lebenslehre

Von Irmtraud Gutschke



Es ist ein seltsames Gefühl, ein Buch zu lesen, in dem man auf Seite 129 mit sechs Sätzen selber vorkommt, als 15-Jährige von außen gesehen. Auch viele andere Namen sind mir bekannt. Vor allem sie selbst, Lisl Urban: Vor wenigen Wochen gab es im Speisesaal der einstigen Internatsoberschule Wickersdorf eine Trauerfeier für sie. 95 wäre sie in diesem Jahr geworden. Bis fast zuletzt hat sie an ihrem Buch geschrieben, dem dritten Teil ihrer Autobiografie »Ein ganz gewöhnliches Leben«. Es mag bei denjenigen Interesse finden, die sie gekannt haben – rechne ich richtig, dürften es an die sechs- oder siebentausend Schüler, Kollegen oder sonstige Nahestehende sein. Vielleicht auch mehr, denn Lisl Urban liebte es, Kontakte zu knüpfen. Allerdings muss in einer Rezension gefragt werden, inwieweit ein Buch auch über den Bekanntenkreis einer Autorin, eines Autors hinaus zu wirken vermag. Was könnte interessant daran sein für jemanden, dem Lisl Urban eine Fremde ist?

Vielleicht das: Wie sie ein Lebensgefühl aus den frühen DDR-Zeiten miterleben lässt, das vielen heute seltsam vorkommen muss – die Überzeugung, alles werde nun Stück für Stück besser werden. Geduld müsse man haben, aber man könne sicher sein. Aller möglichen Ärgernisse zum Trotz, das Ziel war eine humanistische Gesellschaft. Beim Lesen begegnet uns eine Frau, die unbeirrt ist und unbefangen. Was erstaunt, wenn man aus den zwei vorigen Bänden ihrer Autobiografie weiß, was sie alles erlebt hat.

Es ist ihr gelungen, zu sich selbst eine ungebrochene Beziehung zu haben und dadurch auch andere anzunehmen. Sie begeistert sich, wann immer sie kann – über eine Stadt, die sie erkundet, über Waldwege (einsame Wanderungen von 15 Kilometern waren ihr noch mit über neunzig ein Vergnügen), über Menschen, die sie trifft und an denen sie das Interessante sucht. Vor allem aber begeisterte sie sich für ihre Schüler, denen sie an sich schon einen Zauber der Jugend zugestand und denen sie Gutes tun wollte auf alle nur mögliche Weise.

Es sei nicht in Abrede gestellt, dass jeder Lehrer Gutes tun will. Aber meist geschieht das im Rahmen eines Arbeitsauftrags, durchdringt nicht so das ganze Leben, wie es bei ihr gewesen ist. Sie geht durch die Zimmer des Internats und schaut, ob jemand Sorgen hat, sie hört zu und versteht. Nichts wird es geben, was sie zu einer Abwehrreaktion bringen könnte – dafür hatte sie in ihrem Leben einfach schon zu viel gesehen, wovon ihre Schüler nichts wussten. Nun vergleicht man ihre Innensicht mit der eignen Außensicht.

Am spannungsvollsten scheinen mir im Buch die Passagen über die 50er, beginnenden 60er Jahre, die ich noch nicht bewusst erlebt habe. Ich ahne, in welcher Konstellation sie sich als parteilose Lehrerin an diesem Internat befand, das zur sozialistischen Musterschule werden sollte, und staune, wie sie Widersprüchliches in sich integrierte.

Ein Junge wurde von seinen Mitschülern verprügelt, weil er im Nachbarort den Gottesdienst besucht hatte. Eines Nachts trifft sie beim Rundgang durch ein Internatsgebäude bewaffnete Schüler an und erfährt, dass sie zum Wachdienst eingeteilt sind, um die Schule (15km von der Saalfeld entfernt im Wald!) vor einem möglichen Überfall zu schützen. Einer ihrer Lieblingsschüler meldet sich zum MfS und bleibt mit ihr in Kontakt fast bis zuletzt. Sie aber würde sich vor dem Zimmer einer »republikflüchtigen« Lehrerin postieren, damit deren Mutter ungestört alles an sich nehmen kann, was sie will. Sie würde kurzerhand den Zeichensaal abschließen, um zwei verliebte Jugendliche darin vor Entdeckung zu schützen.

Sie freut sich, wie Mädchen ihren Klassenraum mit Paradiesvögeln bemalen und ist erschüttert, als Jungs – im Blauhemd – auf ihrem Grundstück anrücken, im steinigen Boden das Fundament für ihr Haus auszuheben, denn der Maurer hatte ihr kurzfristig abgesagt. Als Zeichenlehrerin würde sie niemals einen Schüler getadelt haben, dass seine Arbeit nichts tauge. Bei jedem würde sie Lobenswertes finden und selbst überzeugt davon sein.

Wenn eine Klasse bei anderen Lehrern als Ansammlung von Individualisten galt, war ihr das gerade recht. Sie war mutig, aber auch vorsichtig. Eine Aufmüpfige, Oppositionelle gar? Nein. Sie tat mit, bei allem, was gefordert war, interpretierte es aber auf ihre Weise, oft ohne dass ihr überhaupt bewusst gewesen wäre, wie sie sich gegen eine Linie stellte. Heute ist mir klar, dass solch eine Fähigkeit ein Geschenk für einen Menschen ist.

Manche müssen eifern, anderes ist ihnen nicht gegeben, und sie sind selber unglücklich damit. Ihre Seele aber lachte in jeden Morgen hinein. Ins Offene ging sie mit allergrößter Selbstverständlichkeit. Auf dem Titelfoto steckt sie die Zunge heraus. Und wenn es ein Lebensmotto für sie gab, so dieses: »Ich bin ein Mensch, und nichts Menschliches ist mir fremd.«

Lisl Urban: Ein ganz gewöhnliches Leben. Drittes Buch. Dingsda-Verlag. 144 S., brosch., 16,90 EUR.



NEUES DEUTSCHLAND, 5.3.09



Meine Klassenlehrerin in der DDR....