Als sie aus dem indonesischen Restaurant herauskamen, meldete sich Lüttges‘ Handy mit einem alten Hit von Blondie. Der großgewachsene Kommissar blickte sich um – dort, wo er sich gerade befand, stand er den Servicekräften des Restaurants im Wege, die die vielen Tische im Außenbereich bedienten. Er fand einen ruhigen Platz am Ausgang einer kleinen Seitengasse.
Delamotte hingegen zog es zum Wasser. Der kleine Motorboothafen lag nur wenige Schritte entfernt, er legte sie schnell zurück, mit Alvarez in seinem Gefolge. Hinter sich hörte er das Klicken eines Feuerzeugs. Er drehte sich um; Alvarez hatte sich gerade einen Zigarillo angezündet. Mit einem schuldbewusst wirkenden Lächeln hielt der Ballistikexperte Delamotte die Schachtel hin. Delamotte lehnte dankend ab – mit solchen Versuchungen würde er in Zukunft leben müssen, dachte er.
„Sehr schöne Gegend hier“, sagte Hugo Alvarez mit Blick auf das kleine Hafenbecken, in dem einige überraschend große und luxuriöse Motorboote lagen.
„Sehe ich auch so“, stimmte Delamotte ihm zu, „schön und geschichtsträchtig. Wenn es vor siebenhundert Jahren bereits Kommissare, Kriminaltechniker und Psychologen gegeben hätte, wären wir wahrscheinlich hier von Bord gegangen.“
Hugo Alvarez war nicht zum ersten Mal an diesem Tag verwirrt – wollte dieser seltsame Mann ihn etwa auf den Arm nehmen? Er blickte Delamotte ins Gesicht, aber der Psychologe wirkte so, als hätte er gerade etwas völlig normales und sinnhaftes gesagt. Alvarez blieb nichts anderes übrig, als nachzufragen: „Was meinst du damit?“
Delamotte erklärte ihm, dass der Fluss, an dessen Ufer sie standen, ein Seitenarm des großen Stroms war, an dem Marßen lag. „Früher wären wir nicht über die Autobahn hierhergekommen, sondern über das Wasser.“
Nach einem kurzen Augenblick fragte Delamotte: „Kennst du die beiden Hafenbecken in der Altstadt? Den Niederländer und den Oberländer Hafen?“
Alvarez nickte, zumindest waren ihm die Namen bekannt und vermutlich war er auch schon mal an den beiden alten Häfen vorbeigelaufen.
In den folgenden Minuten lernte Hugo Alvarez mehr über die Geschichte der Stadt, in die er zu Jahresbeginn gezogen war, als er sich hätte anlesen können. Delamotte dozierte über die zentrale Rolle, die Marßen im europäischen Handelsnetz des Mittelalters und der Frühen Neuzeit gespielt hatte, begünstigt durch seine geografische Lage. Hugo lernte die verschiedenen Schiffstypen kennen, ebenfalls Niederländer und Oberländer genannt, und manche Details über unterschiedliche Wassertiefen und die Breiten der Fahrrinnen. Und natürlich die Produkte aus dem Norden und dem Süden, die in Marßen umgeschlagen worden waren. Delamotte war gerade dabei, Alvarez das vom Kaiser verliehene Stapelprivileg der Marßener Kaufleute zu erklären, als sich jemand hinter ihnen mit einem vernehmbaren Räuspern Gehör verschaffte.
„Schönen Gruß von Claudio“, sagte Lüttges, „er und Jutta haben sich ja heute mit der Witwe Hanelt unterhalten. Dabei haben sie etwas Interessantes herausgefunden. Hanelt hat in den Tagen vor dem Mord mehrmals die Vermutung geäußert, er werde beobachtet. Ein ihm fremder Mann wäre ihm ein paar Male über den Weg gelaufen.“
„Haben wir eine Beschreibung von dem Mann?“, fragte Alvarez.
„Leider nein“, antwortete Lüttges, „die Frau hat den Typen ja selber nie gesehen.“
Delamotte murmelte: „Er gewinnt an Routine, ganz klar.“ Bevor einer der beiden anderen Männer etwas fragen konnte, präzisierte der Psychologe: „Dass sein zukünftiges Opfer ihn vielleicht wahrnimmt, wird er natürlich auch vermeiden wollen – aber im Zweifelsfall nimmt er das in Kauf. Sobald er seinen Schuss abgefeuert hat, kann das Opfer eh keine Beschreibung mehr geben.“
Alvarez fröstelte bei dem Gedanken. Delamotte fuhr fort: „Dass aber eine Ehefrau, oder eine andere Person aus dem unmittelbaren Umfeld des Opfers ihn wahrnimmt – das Risiko wird er nicht eingehen.“
„Hanelt hat seiner Frau also keine Beschreibung des Fremden gegeben“, wollte Alvarez wissen.
Lüttges sagte: „Ganz grob nur. Er hat was gesagt von wegen: ‚Der Kerl dürfte noch kein Rentner sein‘ – was er damit gemeint hat, darüber können wir nur spekulieren.“
Auto gefahren war Hanelt laut seiner Frau nur noch selten, seitdem er sein Geschäft aufgegeben hatte. In den Jahren davor hatte er aber einige Bußgelder zahlen müssen.
Abermals erklang „Call me“ – Lüttges nahm das Gespräch an und führte eine kurze Unterhaltung auf Niederländisch. „Das war Rigters“, erklärte der Kommissar, nachdem er aufgelegt hatte, „die meisten Leute, die an dem Konzert mitgewirkt haben, hat er erreicht. Wir können sie morgen um elf Uhr in der Kirche befragen.“
„Warum erst so spät?“, fragte Delamotte.
„Danach habe ich nicht gefragt“, erwiderte Lüttges, „ich denke mal, viele davon sind Musiker, also Künstlernaturen, die haben eben einen anderen Tagesrhythmus.“
Alvarez grinste: „Immerhin gibt uns das die Chance, an der Hotelbar noch einen Absacker zu trinken.“ Dagegen hatte Delamotte keine Einwände.

Die vorderen Bänke der Westerkerk waren gut gefüllt. Rigters erklärte den Besuchern offenbar, worum es ging, mit Lüttges zu seiner Rechten. Einige Male kam Unruhe auf – die meisten Beteiligten des Osterkonzerts hörten zum ersten Mal, dass auf einen von ihnen ein Mordversuch verübt worden war.
Im Seitengang erkannte Delamotte Edwin und nickte ihm zu. Der Psychologe stand schräg hinter den beiden Kommissaren unmittelbar vor dem Altar, und fühlte sich wie ein Ministrant. Als Jungs waren sowohl Hardy als auch er selber Messdiener gewesen.
Lüttges ergriff nun das Wort; Delamotte wusste, dass Manni zunächst einmal fragen würde, wer von den Anwesenden im Laufe des späten Mittwochabends einmal vor die Türe des Seiteneingangs getreten war. Mehrere Besucher zeigten auf, fast wie in der Schule – Delamotte war von der Anzahl überrascht und bat Manni: „Kannst du bitte fragen, ob von diesen Personen jemand regelmäßig in Marßen zu tun hat – oder zumindest mal hatte?“
Noch bevor Lüttges die Frage auf Niederländisch beendet hatte, trat ein Mann vor. Er sah so holländisch aus, dachte Delamotte, dass er jederzeit Frau Antje als Werbeträger für Käse oder Butter hätte ersetzen können. Der Mann war relativ groß und schlank, was ein bisschen mit seinem eher runden Gesicht kontrastierte. Dessen wesentlichstes Merkmal waren die vor Gesundheit strotzenden roten Wangen, was durch das hellblonde Haar noch hervorgehoben wurde.
„Wenn es um Marßen geht“, sagte er auf Deutsch, „dann denke ich, dass ich wohl gemeint bin.“ Sein Akzent klang genauso charmant wie der all jener niederländischen Entertainer, die über Jahrzehnte hinweg im deutschen Fernsehen Karriere gemacht hatten.
Lüttges fragte noch einmal kurz nach, ob sonst jemand eine enge Verbindung zu Marßen hätte; aber kein anderer meldete sich.
„Ich denke, wir können am besten vor der Türe reden“, schlug der blonde Niederländer vor. Delamotte nickte, sie gingen nach draußen. Lüttges und Alvarez gesellten sich hinzu, ebenso eine Mitarbeiterin von Rigters. Delamotte wusste nicht, ob die Anwesenheit niederländischer Beamter bei dieser Befragung rechtlich vorgeschrieben war – diplomatisch geboten erschien sie ihm allemal.
Der Mann hieß Marcel Bertelinckx, war Tontechniker und betrieb eine kleine Firma mit knapp einem Dutzend Angestellten im Südwesten der Niederlande. Seit fünf Jahren verantwortete seine Firma den Sound des Osterkonzerts in der Westerkerk, das auch im Radio übertragen wurde. „Und im Internet“, wie Bertelinckx betonte. „Diese Kirche hat einen tollen Sound, aber es ist schon eine Herausforderung, weißt du, dieses alte Gebäude mit moderner Technik zu verbinden“, erklärte er.
Lüttges fragte ihn nach seinen Aufträgen in Marßen.
„Oh, in Marßen bin ich ziemlich oft, weißt du“, sagte der Niederländer, „auch da immer mal Konzerte in Kirchen, wir haben einen guten Ruf was das angeht.“ Sogar an der Übertragung der letztjährigen Weihnachtsmesse im Diözesanradio hatte Bertelinckx seinen Anteil gehabt. „Aber auch bei anderen Konzerten in Marßen war ich schon dabei, schon einige Male mit Herman van Veen zum Beispiel“, sagte Bertelinckx, „oder letzten Sommer beim Auftritt von Golden Earring auf dem großen Rockfestival. Wie du siehst, meistens bei Konzerten holländischer Musiker.“
„Am Mittwoch vor Ostern“, sagte Delamotte, „also am Tag der ersten Probe – da bist du also abends mal hier draußen vor der Türe gewesen.“
„Ja, nicht nur einmal“, antwortete Bertelinckx, „es gab an dem Abend zwei Pausen, weißt du, die habe ich beide genutzt, hier eine zu rauchen. Und dann noch eine nach der Probe, so kurz vor Zwölf war das.“
Delamotte war etwas überrascht: „Warst du jeweils alleine hier?“
Der Holländer schüttelte energisch den Kopf: „Nein, nein, bei der ersten Pause war einer unserer Mitarbeiter mit hier draußen, und der Mann, der für das Licht verantwortlich war.“ Er überlegte kurz: „Ja, und bei der zweiten Pause waren es Jan, also dieser Mitarbeiter, und zwei Musiker aus dem Orchester. Nur ganz am Ende, nach der Probe, da stand ich alleine hier.“ Abermals dachte Bertelinckx nach: „Die Probe war ja vorbei, ich denke die meisten Musiker waren schon weg. Ich weiß nicht mehr, warum Jan nicht…“ Sein Gesicht hellte sich auf: „Doch, ich weiß wieder, er hat mit einer netten Sängerin geredet, ein bisschen geflirtet – da wollte ich ihn nicht stören.“
„Und wie ist diese Zigarettenpause dann genau abgelaufen?“, wollte Lüttges wissen.
Bertelinckx kramte in seinen Erinnerungen: „Also, ich habe hier geraucht, war zufrieden mit der Probe. Viel sehen konnte man nicht, draußen war es düster, nur hier an der Türe war Licht, diese Laterne hier war an.“
Delamotte ärgerte sich ein wenig – die Frage nach der Laterne hätte er vorher schon selber stellen können.
„Und dann, ich hatte die Zigarette zur Hälfte geraucht, rief mich Willeke zu sich – das ist die Chorleiterin, weißt du“, fuhr der Tontechniker fort.
„Sind Sie direkt reingegangen?“, fragte Lüttges.
„Nein“, antwortete Bertelinckx, „erst habe ich die Zigarette hier in einem Aschenbecher ausgemacht.“ Er bemerkte, wie Delamotte sich umblickte, und erklärte: „Jetzt ist er nicht mehr da, aber damals stand hier so ein großer Aschenbecher. Irgendwer hat an uns Raucher gedacht, denke ich.“ Er lächelte: „Oder er hat an die Sauberkeit von diesem Eingang hier gedacht.“
Nach einer Gedankenpause sprach er weiter: „Und als ich die Zigarette ausgedrückt habe, genau in dem Moment, war da so ein dumpfes Geräusch. Es war seltsam, denn das kam von der Türe, nicht von dem Aschenbecher. Ich habe dann noch die Türe ein bisschen hin und her bewegt, aber da kam nichts mehr. Dann bin ich zu Willeke gegangen.“
Bertelinckx griff an die Seitentasche seiner Hose. „Habt Ihr was gegen einen kleinen Spaziergang“, fragte er, „ich habe meine Zigaretten im Auto gelassen.“
Alvarez bot ihm einen Zigarillo an, aber der Niederländer schüttelte den Kopf: „Danke, aber die sind mir zu stark.“
Delamotte stellte auf dem Weg fest, dass dies bereits das dritte Mal war, dass er von der Kirche zum Parkplatz am Cornelisplein ging.
Lüttges fragte den Tontechniker nach seiner Fahrweise. „Stehe ich etwa unter Verdacht?“, fragte der Niederländer, und trotz seines Lächelns spürte Delamotte ein gewisses Maß an Argwohn.
„Wir denken, dass eine sportliche Fahrweise den Mörder auf seine Opfer aufmerksam macht“, erklärte der Psychologe.
Bertelinckx blieb stehen: „Ihr denkt wirklich, jemand wollte mich ermorden?“
„Das ist ziemlich offensichtlich“, erwiderte Lüttges. Der
Tontechniker wirkte konsterniert: „Das ist doch völlig irre!“ Dann beantwortete er Lüttges‘ Frage: „Ja, ich fahre schon gerne flott, aber nicht zu wild, weißt du.“
Bertelinckx‘ Wagen stach auch von Weitem aus den am Cornelisplein geparkten Autos hervor. Den Renault zierten farbenfrohe Aufdrucke, die Werbung für seine Firma machten: The Magic Of Sound.
„Hast du in der Woche vor Ostern auch hier geparkt?“, fragte Delamotte.
„Ja, natürlich“, bestätigte der blonde Niederländer, „der Platz vor der Westerkerk war reserviert für die Busse von Orchester und Chor, und zum Entladen der Technik. Unsere Technik war in einem Kleinlaster, den Jan gefahren hat – und ich kenne die Stadt hier ja schon, bin also direkt von zuhause auf diesen Parkplatz gefahren, jeden Tag.“
Delamotte war nun absolut sicher, dass der Uhu diesen Parkplatz genutzt hatte, und er wusste auch warum.
„Wir bräuchten noch möglichst genaue Informationen darüber, wann und wo Sie in den letzten Jahren in Marßen tätig waren“, bat Lüttges.
Bertelinckx antwortete: „Natürlich, das kann ich Euch schicken. Reichen die letzten zehn Jahre?“
Lüttges blickte Delamotte fragend an – der Psychologe nickte zustimmend und wunderte sich über den Zeitraum. Offenbar sah Bertelinckx deutlich jünger aus als er war.

Auf der Rückfahrt nach Deutschland gingen Delamotte viele Gedanken durch den Kopf. Lüttges bemerkte dies und fragte: „Was grübelst du?“
„In der Woche vor Ostern, wahrscheinlich schon am Montag, fährt der Uhu nach Holland“, antwortete der Psychologe. „Er hat bereits zwei Morde dort begangen, und nun hat er Bertelinckx auf dem Radar – und der ist ihm irgendwann aufgefallen, sicher auf dem Marßener Ring.“ Er sah, dass Lüttges ihn durch den Rückspiegel beobachtete. „Am Mittwoch, am Abend der ersten Probe, legt er sich auf die Lauer“, fuhr Delamotte fort.
„Woher wusste er von der Probe“, warf Lüttges ein. Die Frage war berechtigt, dachte Delamotte.
„Vielleicht hingen Plakate aus, Hinweise, vielleicht sind bei solchen Proben Zuschauer zugelassen“, vermutete er.
„Oder er hat auf der Internetseite von Bertelinckx‘ Firma Hinweise auf Konzert und Proben bekommen“, meldete sich Alvarez zu Wort, „oder auf irgendeiner anderen Website. Also, er verfolgt Bertelinckx zur Kirche, sieht wie dort Instrumente, Boxen, Kabel und so ein Zeug rein getragen werden – ich an seiner Stelle würde mal im Internet suchen, was da los sein könnte.“ Sehr guter Punkt, dachte Delamotte.
„Er muss an den beiden Tagen davor schon mal gesehen haben, wie Bertelinckx an diesem Seiteneingang eine Zigarettenpause machte“, sagte er.
„Wahrscheinlich mehr als eine“, mutmaßte Lüttges.
„Auf jeden Fall ist er davon ausgegangen – zu Recht davon ausgegangen – dass seine Zielperson auch an diesem Abend rauchen gehen würde“, bemerkte der Psychologe.
„Aber die ersten beiden Male war Bertelinckx in Gesellschaft“, sagte Alvarez.
„Stimmt“, antwortete Delamotte, „und damit hat der Uhu vielleicht nicht unbedingt gerechnet. Und selbst wenn – das Opfer in Anwesenheit anderer Personen zu töten, wäre ihm zu riskant gewesen. Eventuell hätte ihn trotz der Dunkelheit doch jemand gesehen, die Polizei wäre sehr schnell alarmiert worden – zu viele Unwägbarkeiten für einen Mann wie den Uhu.“
„Und dann, gegen Mitternacht, kommt schließlich die Gelegenheit“, sagte Lüttges.
Delamotte stimmte ihm nur teilweise zu: „Ja, es sieht nach der Gelegenheit aus – bis es dann zu dieser Störung kommt. Bertelinckx wird gerufen, beugt sich vor, drückt die Zigarette aus.“
„Genau in dem Moment, als der Uhu schießt“, sagte Lüttges, „und der Schuss geht daneben.“
„Aber was ich dann nicht verstehe“, warf Alvarez ein, „warum versucht er es nicht nochmal? Zeit genug hatte er. Bertelinckx sagte doch, dass er die Türe gecheckt hat, nachdem er dieses Geräusch gehört hatte.“
„Sehr valider Hinweis“, hörte er Delamotte murmeln, „diese Frage muss ich ihm mal stellen.“ Alvarez drehte sich zur Rückbank, unsicher ob Delamotte das ernst gemeint hatte oder nicht. Der Psychologe schien gerade wieder in einer anderen Dimension zu sein.
Einige Minuten später hatte sich Delamotte wieder gefangen. Er sagte: „Fassen wir es mal zusammen. Anfang des Jahres verlagert der Uhu sein Geschäft nach Holland, warum auch immer. Er tötet zwei Männer, scheitert dann bei Bertelinckx. Auf der Heimfahrt – der fluchtartigen Heimfahrt nach Marßen fällt ihm Dr. Ernsting auf. Er verfolgt ihn, er tötet ihn.“
„Ja“, brummte Lüttges mit nachdenklichem Unterton. Delamotte bemerkte, dass der Kommissar ihn wieder durch den Innenspiegel ansah.
„Seitdem hatten wir die Morde an Becker und Hanelt“, ergänzte der Psychologe, „beide in Marßen.“ Er zögerte kurz, bevor er die Konsequenz dieser Fakten aussprach: „Er ist zurück. Er ist wieder in seinem Revier.“

Beim Verlassen des Aufzugs kollidierte Delamotte beinahe mit einem ihm unbekannten Mann. Der Fremde mochte ungefähr in seinem Alter sein, war aber ein Stück größer und vor allem deutlich schlanker als er. Delamotte murmelte eine Entschuldigung; der Fremde verschwand im Aufzug. Ein neuer Mieter vielleicht, dachte Delamotte, während er den Flur entlangging.

Als er an seiner Wohnung ankam, wurde er direkt von Britta abgefangen. „Sag mal, wo warst du?“, wollte sie wissen. „Ich habe gestern und heute schon ein paarmal bei dir geklingelt.“
„Ich musste kurzfristig nach Holland“, erwiderte er. Ein bisschen Schuldgefühle empfand er schon dabei, schließlich hätte auch er ein Post-it an Brittas Türe hinterlassen können.
„Kripo oder Koffieshop?“, fragte seine Nachbarin mit einem Zwinkern.
Delamotte musste laut lachen: „Leider Kripo.“ Nicht zum ersten Mal fiel ihm auf, wie bezaubernd Brittas Lächeln sein konnte.
„Du, sag mal, hast du Lust, nachher zum Essen rüber zu kommen?“, fragte sie. „Dann brauchst du dir nicht noch extra Arbeit zu machen.“
Delamotte war von der Idee sehr angetan: „Herzlich gerne. Wieviel Uhr?“
Britta überlegte: „Die Zubereitung braucht ein bisschen Zeit – ist acht Uhr OK?“
Delamotte nickte – das würde ihm die Gelegenheit geben, sich frisch zu machen und ein wenig auszuruhen. Und um ehrlich zu sein, hätte er jeder anderen Uhrzeit auch zugestimmt.

Nach einem kurzen Umweg über den Keller klingelte Delamotte fast exakt um acht Uhr bei Britta. Sogar durch die geschlossene Türe konnte er einen intensiven, südländischen oder orientalischen Duft wahrnehmen, der ihm das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ.
Es dauerte einen Moment, dann hörte er eine Männerstimme sagen: „Ich geh schon.“
Die Tür wurde geöffnet, und für einen Augenblick hatte Delamotte das Gefühl, in einem Eisblock zu stecken. Vor ihm stand der dunkelblonde Mann, den er vor nicht allzu langer Zeit am Aufzug fast über den Haufen gerannt hatte – oder der Fremde ihn, das wäre auch möglich gewesen. Und auch wenn der Mann ihm freundlich zulächelte und sagte: „Hi, komm rein, Britta ist gerade in der Küche beschäftigt“, so war Delamottes Gehirn doch nur mit zwei Fragen beschäftigt. Wer war dieser Typ? Und was machte er in Brittas Wohnung?
Die Gastgeberin erschien im Flur, mit einem Strahlen im Gesicht kam sie auf Delamotte zu: „Markus, nun komm doch rein.“ Sie umarmte ihn, er spürte ihre Wärme und so etwas wie eine ganz sachte Begegnung ihrer Lippen mit seiner Wange. Sie zog ihn in die Wohnung, nahm ihm fast liebevoll die Flasche aus der Hand. „Hey, sag bloß du hast wieder meinen Lieblingswein mitgebracht?“, fragte sie.
Ja, dachte er, das war schon ein Phelan Segur, aber vielleicht konnte ihm mal jemand erklären was gerade los war. Britta ergriff seine Hand und führte ihn ins Wohnzimmer, sie kamen an dem fremden Mann vorbei und sie sagte: „Du kennst Theo noch gar nicht, oder?“
Delamotte schüttelte den Kopf, nein, er kannte Theo, der ihn immer noch angrinste, noch nicht.
Aus der Küche kam eine quirlige, ziemlich kleine Frau mit tiefschwarzem Haar und rief: „Und ich bin die Nicky.“ Und just als Nicky ihn umarmte und Theo ihm einen Klaps auf die Schulter verpasste, kam in Delamotte eine verblasste Erinnerung auf. Ein Gespräch auf dem Flur, es war um die Nachbarn gegangen, um Frau Berthold und Frau Renner und den Polen mit dem unaussprechlichen Namen. Und um Nicky und Theo.
„Die aus dem zweiten Stock“, murmelte er. Dann erschien endlich wieder ein Lächeln auf Delamottes Gesicht: „Hallo ihr zwei. Der Groschen ist nur langsam gefallen, aber ja, Britta hat mir schon von euch erzählt.“
„Sie hat uns auch schon von dir erzählt“, sagte Nicky, „und nun geht endlich mal ins Wohnzimmer, Jungs, wir kommen auch gleich rüber.“
Bevor sie Nicky in die Küche folgte, drückte Britta Theo die Weinflasche in die Hand. Während Delamotte es sich auf dem Sofa bequem machte, studierte Theo das Etikett und fragte: „Was machen wir damit?“
„Na, öffnen, was denn sonst“, klang Brittas Stimme aus der Küche.
Delamotte ergänzte: „Der sollte schon so mindestens eine Stunde atmen, wenn es geht auch länger.“
Theo verstand: „Gut, dann trinken wir erst den Rapsani und dann diesen hier.“ Er entkorkte den Cru bourgeois und stellte ihn auf das Sideboard an der Wand von Brittas Wohnzimmer. Dann nahm er eine bereits geöffnete Flasche mit schwarzem Etikett, und goss vier Gläser ein. „Kennst du griechischen Wein?“, fragte er.
„Um ehrlich zu sein, das Lied kenne ich wahrscheinlich besser als den Wein“, antwortete Delamotte. Theo grinste: „Dann wird es Zeit, das zu ändern.“
Die beiden Frauen kamen ins Wohnzimmer, jede trug eine große, duftende Platte bei sich. „Die Mezedes sind fertig, bedient euch“, sagte Nicky, als sie und Britta die Platten ebenfalls auf das Sideboard stellten.
Delamotte erhob sich vom Sofa; auf den Platten erkannte er frittierte Fischchen, gegrillte Krakenarme, gebratene Auberginen und Zucchini und mehrere Stücke von offenbar ebenfalls gebratenem, zuvor paniertem Käse. Nicky stellte noch eine dampfende kleine Schüssel mit weißen Bohnen in Tomatensauce dazu. Dann verpasste sie Theo einen Tadel: „Da gehört jetzt aber noch kein Wein dazu, sondern Ouzo.“
Delamotte war verblüfft: „Ouzo zum Essen? Ist der nicht für hinterher?“
Theo schüttelte den Kopf: „Nein nein, meine kleine Supergriechin hat schon recht. Zu Mezedes trinkt man Ouzo.“
Britta erschien grinsend im Wohnzimmer, zwei Flaschen in der Hand: „Einmal Ouzo, einmal Wasser – so hat es mir Nicky beigebracht.“
Theo goss Ouzo in kleine Wassergläser, und etwas Eiswasser obenauf. Delamotte nahm sich ein Glas und sagte: „Jámas!“ Nicky und Theo blickten erstaunt. „Hey, ich habe zwar keine große Ahnung von griechischem Wein“, sagte Delamotte lachend, „aber so ein bisschen was über Griechenland habe ich ja nun auch schon gehört.“ Wie die anderen trank er einen Schluck, nahm sich dann einen Teller und bediente sich an den Mezedes.
Gemeinsam gingen die vier zum Tisch, die Jungs nahmen auf dem Sofa Platz, die Mädels enterten die Sessel. Das Essen roch und schmeckte fantastisch, und zu Delamottes Überraschung passte der Ouzo sehr gut dazu. „Den Wein trinken wir dann zum Stifado“, sagte Nicky.
„Was, es gibt noch mehr?“, rief Delamotte ungläubig aus.
„Gewöhn dich dran, Junge“, erklärte Theo, „mich mästet Nicky schon seit sechs Jahren.“
Die Mast sah man Theo nicht an, und Delamotte fragte: „Und wie schaffst du es dann, so schlank zu bleiben?“
„Du hättest ihn sehen müssen, als wir uns kennengelernt haben“, rief Nicky dazwischen, „da sah er aus wie verhungert.“
„Und seitdem hilft mir der Sport, nicht zu sehr zuzulegen“, sagte Theo, „ich spiele Basketball in Beyel.“ Delamotte war beeindruckt – der dortige Verein war immerhin drittklassig.
Delamotte hatte den Schreckmoment an der Wohnungstür schon längst vergessen. Als Britta und Nicky wieder in die Küche verschwanden, schlug er Theo vor: „Lass uns schon mal Euren Wein probieren.“ Theo hatte keine Einwände, sie holten die vier gefüllten Gläser, stellten zwei auf den Tisch und stießen mit den beiden anderen an. Delamotte steckte seine Nase tief in das Glas – der Wein duftete intensiv nach getrockneten Früchten. Er nahm einen ersten Schluck und war sehr beeindruckt: „Schmeckt großartig! Wo ist der her?“ –
„Aus Thessalien“, erwiderte Theo. Er sah die Fragezeichen im Gesicht seines Gesprächspartners und fügte hinzu: „Das liegt in Mittelgriechenland.“
„Wohnt ihr schon die ganzen sechs Jahre hier in Bliesfeld?“, fragte Delamotte.
Theo schüttelte den Kopf: „Ich wohne seit sechs Jahren hier, stamme eigentlich aus Sterkum. Nicky lebt schon immer hier, sie ist ein Bliesfelder Mädchen.“ Delamotte wunderte sich – Nicky musste in seinem Alter sein, aber gekannt hatten sie sich wohl früher nicht. Dabei war Bliesfeld nun wirklich nicht groß.
Die beiden Frauen kamen mit einem großen Bräter aus der Küche – der Duft, den er verströmte, war unglaublich verlockend. „Ich warte schon seit Wochen auf diesen Tag – Nicky hat mir endlich die Zubereitung von Stifado gezeigt.“
„Und ist doch gar nicht so schwer, oder“, lachte die Griechin. Ob schwer oder nicht, das Schmorgericht schmeckte irrsinnig gut.
„Ich glaube, ich kenne dich noch ein bisschen von früher“ – Delamotte blickte vom Teller auf, Nicky hatte ihn angesprochen – „du warst am Bischöflichen, oder?“
Theo lachte: „Ich habe ihm schon erzählt, dass du ein Bliesfelder Mädchen bist.“
Nicky lachte ebenfalls und begann zu singen: „Wenn mir all zesammestonn, weed e Leed jesonge.“
Delamotte traute seinen Ohren kaum. Nicky erklärte: „Hey, ich war schließlich drei Jahre lang mit dem Vorsinger der Kappesboore zusammen…“
„Mensch, du warst die Freundin von Giessens Hein“, rief Delamotte aus, „Südtribüne Block C – der Hein hat dich oft auf die Schultern genommen, damit du auch was vom Spiel sehen konntest.“
Nicky bestätigte lachend: „Und wo hast du gestanden?“
„Direkt neben euch, Block D“, antwortete er.
„Dann warst du bei den Klüttemänn“, stellte Nicky fest.
„Das bin ich immer noch, als Ehrensenior“, sagte Delamotte.
„Sagt mal, habt Ihr für uns auch was anderes zu erzählen als Eure alten Geschichten vom Eishockey?“, fragte Britta.
„Oh, natürlich haben wir das“, erwiderte Nicky, „der Markus war damals mal ziemlich stark hinter Anja Kovac her.“
„Na, das hört sich doch viel interessanter an, erzähl mehr davon“, forderte Britta.
„Bloß nicht“, wehrte Delamotte ab, „das sind für mich hochgradig traumatische Erinnerungen – Anja hat mich eiskalt verschmäht.“
„Och du Ärmster“, sagte Britta und wuschelte ihm durch das Haar, „das muss dann aber eine ziemlich dumme Pute gewesen sein.“
Delamotte strahlte sie an: „Da gebe ich dir Recht, aber – na ja, ich war noch ziemlich jung und in die dumme Pute verknallt. Ich habe lange an der Zurückweisung geknabbert.“ Bis er dann eine richtige Frau kennengelernt hatte, fiel ihm ein. „Immerhin“, ergänzte er, „Dank Anjas Desinteresse geht meine Familie seither nicht mehr zum Balkan-Grill, sondern ins Šumadija.“
„Das gehört doch dem Onkel von Bobo, oder?“, hakte Nicky nach.
„Moment mal, ihr hängt mich gerade völlig ab“, warf Theo ein, „redest du von meinem Mitspieler Bobo? Bobo Branković?“
„Dein Mitspieler ist mein früherer Mitschüler“, sagte seine Partnerin mit breitem Grinsen.
Britta schaltete sich ein: „Leute, wir müssen uns öfter mal in diesem Kreis treffen – mir wird heute so richtig klar, was für ein Inzuchtnest dieses Bliesfeld eigentlich ist.“
Delamotte grinste breit: „Wenn ich hier mal Bachman Turner Overdrive zitieren darf: You ain’t seen nothing yet.“
Theo lachte schallend, während die beiden Mädels ziemlich ratlos waren. „Wen hast du gerade zitiert?“, fragte Britta.
Delamotte fiel wieder einmal auf, dass sowohl ältere als auch jüngere Geschwister in Sachen popmusikalischer Allgemeinbildung von unschätzbarem Wert waren.

„Dank des Profils wissen wir ziemlich gut, wie der Kerl tickt“, sagte Pesch.
Delamotte gab ihm ein Handzeichen: „Die neueren Erkenntnisse muss ich noch einbauen und über manche Dinge noch mal nachdenken.“ Pesch nickte. „Ich glaube nicht, dass ich an den Schlussfolgerungen allzu viel werde ändern müssen“, fuhr Delamotte fort, „aber vielleicht gibt es da doch noch ein paar Aspekte seines Charakters, die wir bisher nicht genug beachtet haben.“ Er dachte an die Frage bezüglich Versagensängsten, die ihm an der Westerkerk so plötzlich gekommen war.
Pesch bedankte sich und sprach gezielt alle Anwesenden an: „Die Frage aus polizeilicher Sicht ist allerdings: wie kommen wir möglichst rasch an den Kerl ran? Gibt es irgendwelche Steine, die wir noch nicht umgedreht haben?“
Delamotte war nicht entgangen, dass die Frage sich an die anderen Ermittler gerichtet hatte. Aber die Ermittler schwiegen und er hatte da einen Gedanken, den er loswerden musste: „Wir müssen davon ausgehen, dass der Uhu schon dabei ist, das nächste Opfer zu bestimmen und auszukundschaften. Hanelt hat das wahrscheinlich sogar gemerkt. Bei den anderen werden wir es nie mit Bestimmtheit wissen. Aber der Uhu wusste, dass Sötenich beim Kegeln war. Er ahnte zumindest, wann Fischer nachhause kommen würde. Dorns Termin in Neringen, Beckers Abend beim Junggesellinnenabschied ihrer Freundin – der Uhu hat das alles im Vorfeld rausbekommen. Er hat seine Opfer vor der Tat beobachtet.“
„Die in Holland bestimmt auch“, ergänzte Lüttges.
„Alle außer Ernsting“, bekräftigte der Psychologe, „und wir wissen ja auch, warum.“
Maas wirkte skeptisch: „Das ist alles logisch – aber was bringt uns das?“
Delamotte sprach den Gedanken sehr vorsichtig aus: „Wenn Hanelt sich bei uns gemeldet hätte…“
Marino spielte die Idee weiter: „Guten Tag, ich heiße Hanelt. Seit ein paar Tagen beobachtet mich ein fremder Mann, glaube ich.“
Henseler griff das Thema auf: „Ich kenne den Typen nicht, aber er taucht ziemlich oft da auf, wo ich gerade bin.“
Delamotte blickte zu Pesch – der Hauptkommissar sah nicht wirklich überzeugt aus. „Und was genau stellt ihr euch da vor?“, fragte er.
„Zumindest sollten wir die Kollegen beim Notruf sensibilisieren – wenn entsprechende Anrufe eingehen, sofort weiter an uns“, schlug Delamotte vor.
Marino sprang ihm bei: „Und warum nicht direkt ein kleiner Hinweis an die Medien? Das haben wir doch schon oft genug gemacht. Ein kleiner Tipp: wir denken, dass der Uhu seine Opfer vor der Tat ausspioniert. Das würde sofort veröffentlicht.“
Pesch schüttelte energisch den Kopf: „Nein, das sehe ich einfach nicht. Ich kann euren Gedanken durchaus folgen, und mit den entsprechenden technischen Möglichkeiten…“ Er stockte kurz, sprach dann weiter: „Sabine rief mich heute früh an – dieser Alvarez war ja völlig hin und weg, was dieses mobile Labor der holländischen Spurensicherung angeht. Sowas haben wir hier nicht.“
Sein Blick schweifte über die Gruppe: „Und wenn ich mir nun vorstelle, der ‘Blitz’ berichtet auf Seite 1: ‚Uhu spioniert seine Opfer aus‘. Vielleicht noch mit den Aufforderung, sich beim Notruf zu melden, wenn man sich beobachtet fühlt.“ Pesch seufzte: „Da draußen sitzen jede Menge Spinner, Leute mit Aufmerksamkeitsdefizit, besonders ängstliche Personen – Freunde, wir würden in Hinweisen ertrinken. Und das ohne die Möglichkeit, sie wenigstens mal einer technischen Vorabanalyse zu unterziehen, denn sowas haben wir nicht. In vielen Situationen fehlen uns die Mittel, die wir bräuchten. Wir hätten hier eine kleine Gruppe von Ermittlern, und jeder mit einem großen Stapel Meldungen vor sich. Unter denen sich dann – vielleicht – das nächste Opfer des Uhu befindet.“ Abermals schüttelte er den Kopf: „Tut mir leid, aber – I am not convinced.“
Eine Weile herrschte Stille. Delamotte dachte schon, die anderen hätten nach Peschs Ausführungen den Mut verloren. Doch dann räusperte sich Henseler – ausgerechnet der jüngste am Tisch, das war ein gutes Zeichen, empfand Delamotte.
„Es ist uns allen schon klar, dass dieser Typ ein verdammt guter Schütze ist“, sagte der junge Kommissar.
„Mit Sicherheit ein besserer Schütze als ich“, warf Marino ein und verbesserte damit merklich die Stimmung in der Runde.
„Claudio, dein Hinweis ist verdammt wertvoll“, reagierte Henseler direkt, „aufgrund der Schießkünste des Uhus haben wir ja schon mal vermutet, er könnte einer von uns sein. Oder eben ein bereits einschlägig bekannter Krimineller.“ Delamotte bemerkte, dass die Runde Henseler mit großer Aufmerksamkeit folgte. „Herrgott, Jutta und ich haben uns wer weiß wie viele Kandidaten angeschaut“, entfuhr es ihm, „aber eine Spur gefunden haben wir dabei nicht.“ Er machte eine geschickte Kunstpause, bevor er weitersprach: „Aber wenn der Uhu weder ein Polizist noch ein bekannter Krimineller ist – woher kann er dann so gut schießen?“
Die Zuhörer nickten, jeder hatte sich diese Frage schon mal gestellt. „Wir wissen doch alle, wie schwierig das ist – nicht nur Claudio“, fuhr Henseler fort, „du musst erst mal überhaupt lernen, mit einer Handfeuerwaffe zu schießen. Dann, auf bewegliche Ziele zu schießen. Und mit dem Lernen ist es ja nicht getan, du musst in Übung bleiben – wieder und wieder und wieder und wieder.“ Delamotte war beeindruckt, Henseler war ein rhetorisches Naturtalent.
„Ich schlage vor, wir nehmen uns die privaten Schießstände vor, und die Schützenklubs. Besorgen uns ihre Kunden- oder Mitgliederlisten“, sagte der Kommissar, „und die Tage, an denen die Leute auf dem Schießstand waren. Da können wir diejenigen gleich aussortieren, die nur ein- oder zweimal im Jahr ein bisschen Peng-Peng machen wollen.“ Henseler blickte Pesch direkt an: „Und nur so nebenbei: wenn wir den Betreibern ein Dateiformat vorgeben, in dem sie uns die Daten liefern – ich denke da an Excel, das ist fast überall im Einsatz – könnten wir diese Daten auch relativ flott auswerten. Sicherlich schneller als irgendwelche Faxe von der Notrufzentrale.“
Delamotte grinste, Henseler war ohne Zweifel der Computer affinste im ganzen Dezernat. Und mit Erleichterung sah er auch auf Peschs Gesicht ein Grinsen. „Ja, habe ich verstanden“, lachte der Hauptkommissar, „sehr gute Idee, Niclas.“
Auch Maas hatte noch einen Vorschlag. „Wir haben ja in allen Fällen die näheren Kontakte der Opfer gefragt, ob ihnen kurz vor den Morden irgendetwas aufgefallen ist“, sagte sie, „oder besser noch: irgendjemand.“
„Herausgekommen ist leider nichts dabei“, bemerkte Lüttges.
„Das wundert mich ganz und gar nicht“, erwiderte Maas und präzisierte: „Schaut mal, wir Menschen nehmen nur einen Bruchteil dessen wahr, was um uns herum passiert. Das Gehirn schützt sich selber, es könnte alle Informationen gar nicht verarbeiten.“ Maas schien eine verdammt gute Psychologin zu sein, bemerkte Delamotte. „Und genauso schnell vergessen wir dann auch wieder, was wir wahrgenommen haben“, ergänzte die Kommissarin, „warum sollten wir auch all diese Eindrücke speichern – wir wissen ja nicht, ob irgendeine flüchtige Beobachtung zur Lösung eines Mordfalles beitragen könnte.“
„Das ist alles richtig“, warf Pesch ein, „aber ich sehe noch nicht, worauf du hinauswillst.“
Maas lächelte: „Nun, es gibt da eine Art von Zeugen, die weder sonderlich selektiv noch vergesslich sind.“ Die Aufmerksamkeit der anderen war Jutta Maas sicher, und kurz und knapp sagte sie: „Fotos.“
Genial, dachte Delamotte in diesem Augenblick, darauf hätte man früher kommen können. Die anderen am Tisch schienen noch nicht so begeistert zu sein wie der Psychologe. „Was für Fotos meinst du“, fragte Lüttges, „welche von den Opfern?“
Maas schüttelte den Kopf: „Nicht von den Opfern, wenn auch gerne mit den Opfern. Die Opfer haben ja in den, sagen wir mal, zwei Wochen vor dem Mord irgendwas gemacht. Manche waren vielleicht auf Féten, haben Ausflüge gemacht oder Wanderungen, was weiß ich. Manche Leute machen sogar Fotos, wenn sie shoppen gehen. Und solche Fotos brauchen wir. Egal, wer die Fotos gemacht hat, ob das Opfer selber oder ein Begleiter. Und zwar jedes Foto, das bei der Gelegenheit gemacht worden ist. Wenn, nur als Beispiel, die Becker am Wochenende vor dem Mord mit ihrem Lebensgefährten einen Ausflug gemacht hat, brauchen wir jedes Foto von diesem Ausflug. Egal, was auf dem Bild zu sehen ist.“
Marino räusperte sich: „Ja, und was machen wir dann damit?“
Maas erklärte: „Ich glaube, wir alle sind voll und ganz bei Markus, was das Beobachten der Opfer durch den Uhu angeht.“
Das will ich zumindest hoffen, dachte Delamotte – die Reaktion der Runde bekräftigte diese Hoffnung.
„Und das ist auch ganz weitgehend der einzige Punkt, der die Opfer miteinander verbindet“, fuhr Maas fort. Lüttges wollte etwas sagen, aber Maas sprach ihn direkt an: „Ich weiß, Manni, zwei der Männer kannten sich flüchtig. Das ist aber auch schon alles. Aber sollten wir nun, auf den Fotos verschiedener Opfer, die gleiche Person finden – noch dazu eine, die keiner aus dem Umfeld der Opfer kennt…“
„Ein Beweis ist das dann aber noch nicht“, sagte Pesch.
„Aber ein verdammt starker Hinweis, dem wir dann nachgehen könnten“, sprang Delamotte Maas zur Seite. „Und dank Digitalfotografie sollten wir auch genügend Material zusammenbekommen“, erklärte der Psychologe, „die meisten Leute müssen ja keine Filme mehr kaufen, die Fotos entwickeln lassen und so weiter. Ich denke mal, es wird inzwischen viel mehr geknipst als früher.“ Er überlegte einen Moment: „Es wird zwar ein fürchterlicher Knibbelskram, diese ganzen Bilder anzugucken. Aber Jutta hat ja vollkommen recht – wenn wir dabei einen Unbekannten im Umfeld von schon nur zwei Opfern finden, ist das verdammt heiß.“
Alle blickten zu Pesch, der die Sache entscheiden musste. Er beugte seinen massigen Körper vor: „Gut, ihr habt mich überzeugt. Manni, Niclas, ihr beide kümmert euch um die Schießstände und Vereine. Besorgt euch die Daten, analysiert sie sofern das technisch möglich ist, und gleicht sie bitte immer auch mit dem Täterprofil ab.“
Pesch blickte zu Delamotte: „Mit dem aktualisierten Profil natürlich.“ Delamotte nickte.
Der Hauptkommissar widmete sich dem zweiten Punkt: „Jutta und Claudio, ihr besorgt bitte die fraglichen Fotos. Wenn ihr sie beisammen habt, zieht ihr Markus und mich mit hinzu. Je mehr Augenpaare auf die Bilder blicken, desto eher fällt uns was auf.“
„Falls ihr bei den Bildern technische Unterstützung braucht, sagt mir Bescheid“, sagte Henseler. Pesch nickte zufrieden – die Ermittlung hatte zumindest wieder eine Richtung gefunden. Zwei Richtungen, korrigierte er sich.