„Okay, Alter, wer schlägt auf?“ Marino grinste, seine grünen Augen leuchteten noch heller als gewöhnlich. Delamotte sah ihm die Vorfreude an – Gedankentennis war seins. Es war auf jeden Fall besser, als im Präsidium zu sitzen.
Die Stimmung dort hatte Marino nicht ausgehalten, wie er Delamotte am späten Vormittag freimütig erklärt hatte. Der Psychologe hatte sich ohnehin die Freiheit genommen, von zuhause zu arbeiten, und Marino hatte sich entschieden, seinem Kumpel dabei zumindest Gesellschaft zu leisten. Und wie von Delamotte erwartet, war Marino recht flott auf Peschs Reaktion bezüglich der Theorie eingegangen, der Täter könnte aus den Reihen der Polizei stammen.
„Ja, Pesch ist gerade ziemlich unausstehlich“, hatte er gesagt, „aber in dem Punkt kann ich ihn verstehen. Er ist ein Bulle, verdammt, und Manni und ich sind das auch. Und ehrlich, wenn der Gedanke von jemand anderem als dir käme…“
„Wir dürfen keine Möglichkeit ausschließen“, hatte Delamotte eingeworfen.
Marino hatte genickt: „Ruhig, Junge, ich bin ja ganz auf deiner Seite. Aber sprich mal, nur so als Beispiel, einen Arzt auf die Kunstfehler seiner Kollegen an.“ Mit einem Zwinkern hatte er ergänzt: „Du siehst, worauf ich hinauswill, nicht wahr?“
Sie hatten über einige Aspekte der Ermittlung geplaudert, waren dann mehr und mehr zu privaten Themen übergegangen, und Delamotte hatte ein kleines Mittagessen zubereitet. Und schließlich waren sie dann doch wieder beim Uhu gelandet, genauer gesagt bei der Frage, was er in der Nacht auf Gründonnerstag auf der Eins gesucht hatte.
„Warum Ernsting da war, wissen wir genau“, hatte Delamotte gesagt, „der war auf dem Weg zu einer Notfall-OP. Aber warum ist er ausgerechnet in dem Moment seinem Mörder über den Weg gelaufen?“
Und so hatte das Match Gedankentennis angefangen.
Marino übernahm den ersten Aufschlag: „Es ist so gegen drei Uhr nachts, auf der Eins, Fahrtrichtung Marßen. Das wissen wir. Wo kam er her, um diese Zeit?“
Delamotte fiel erst einmal das Offensichtliche ein: „Die Autobahn kommt vom Niederrhein her.“
„Wenn du sie weiterziehst, kommt sie aus Holland“, gab Marino zu bedenken, „das ist ein verdammt weitläufiges Gebiet, wenn du die kreuzenden Autobahnen mit einbeziehst. Kam der Uhu gerade aus Amsterdam oder aus Rotterdam? Aus Duisburg, oder Krefeld, oder Moers?“
„Oder aus irgendeinem Nachbardorf von Riedenkirchen“, warf Delamotte ein. Nein, mit diesem Gedankenstrang kamen sie nicht weiter.
Der Psychologe versuchte einen anderen Ansatz: „Wir sollten uns nicht bei der Örtlichkeit aufhalten, da reicht uns vielleicht schon die grobe Richtung, wenn wir erst mal eine Idee haben, warum der Kerl um diese Zeit dort unterwegs war.“
„Du meinst, womit er in den Stunden zuvor beschäftigt gewesen sein könnte?“, fragte sein Kumpel.
„Genau das“, sagte Delamotte, „wenn wir davon ausgehen, dass er in Marßen wohnt, in welchem Stadtbezirk auch immer.“
„Im Osten, glaubst du doch“, erinnerte sich Marino, mit dem Pesch am Vortag unter vier Augen über das Profil gesprochen hatte.
„Das ist sehr wahrscheinlich“, erwiderte Delamotte, „und ganz nebenbei schließt das dann aus, dass der Uhu aus dem Ruhrgebiet kam oder noch dahinter. Dann hätte er die Drei genommen.“
Marino nickte.
„Und wenn er um die Zeit Richtung Marßen unterwegs war“, ergänzte Delamotte, „dann war er offenkundig auf dem Heimweg. Fragt sich nur: Heimweg wovon?“
Claudio Marino versuchte sich an einer Antwort: „Ich denke erst mal an das Naheliegendste: er kam von der Arbeit.“ Leicht verzog er das Gesicht: „Wirklich wahrscheinlich ist das nicht. Welche Schicht sollte das sein?“
Delamotte stimmte zu: „Die Nachtschicht endet, soweit ich das weiß, in den meisten Betrieben so gegen 5 oder 6 Uhr. Dafür war er also zu früh unterwegs. Und die Spätschicht endet deutlich früher, gegen 10 oder 11 Uhr abends. Nein, Schichtarbeit schließe ich aus. Er war gegen drei Uhr unterwegs – wenn er wirklich von der Arbeit kam, fallen mir eigentlich nur Nachtclubs und Diskotheken ein.“
Marino lächelte: „Vielleicht ist er ein DJ.“
Sie grübelten einige Zeit, jeder still vor sich hin. Marino machte einen neuen Anlauf: „Kam er vielleicht zurück von einem Kurzurlaub? Es war zwar kein Badewetter, aber manche Leute mögen ja das Reizklima und die Seeluft.“
Delamotte war skeptisch: „Da passt dann wieder der Zeitraum nicht. Von der Küste aus, Katwijk zum Beispiel, fährst du bis in unsere Gegend etwa drei Stunden lang. Dann wäre er gegen Mitternacht losgefahren – wer macht sowas?“ Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: „Selbst, wenn er die Fahrt für eine längere Zeit unterbrochen hätte: das passt nicht.“
Marino stimmte dem zu.
„Wie wäre es denn“, machte Delamotte einen weiteren Erklärungsversuch, „mit einem Besuch bei Bekannten? Da sitzt man ja schon mal etwas länger zusammen.“
Diesmal kamen die Einwände von Marino: „Dann stellt sich die Frage nach dem Wo und dem Wann. Ich meine, selbst wenn seine Bekannten ziemlich weit weg leben, in Amsterdam oder sowas – dann hätte er sich trotzdem vermutlich erst kurz vor Mitternacht auf den Heimweg gemacht.“ Er hob leicht die Stimme: „Auf einen verdammt langen Heimweg, in diesem Fall. Und wenn er bei Bekannten nicht weit weg von Marßen war: dann ist er erst mitten in der Nacht aufgebrochen. Wer lässt einen Gast so spät nachhause fahren?“
Der Punkt überzeugte Delamotte nicht direkt, aber Marino legte noch nach: „Also wenn ich einen Gast hätte und wüsste, der ist frühestens um halb vier oder vier zuhause: na, dem würde ich doch anbieten, auf dem Sofa zu pennen und erst nach dem Frühstück nachhause zu fahren.“
Schnelle Antworten, das wussten beide Männer, konnten sie mit dieser Methode nicht finden. Aber sie konnten Dinge eingrenzen, andere ausschließen, und sich so bedächtig an ein Ziel herantasten.
Delamotte hatte noch einen Punkt: „Warum hat er Ernstings Verfolgung aufgenommen? Die hohe Geschwindigkeit alleine kann es nicht gewesen sein – durch die ist er auf den Arzt aufmerksam geworden, aber der Impuls, jemanden zu töten, war in ihm schon drin. Warum aber erwacht dieser Impuls genau in dieser Nacht?“
Marino erinnerte sich daran, wie Delamotte Pesch deutlich gemacht hatte, dass der Uhu nicht so eindimensional war wie – Marino musste bei dem Gedanken grinsen – wie vielleicht Pesch selber. Er warf ein: „Könnte es sein, dass ihn etwas aufgewühlt hat? Ein Streit unter Freunden vielleicht?“
Delamotte war dieser Gedanke nicht völlig fremd. Marino besserte noch etwas nach: „Natürlich nicht der Streit alleine – du hast ja selber kürzlich betont, der wahre Grund liegt viel tiefer. Aber dann kommt eben etwas dazu – einer wirft ein brennendes Streichholz in den Heuhaufen. Ein Freund, der Chef, eine Frau vielleicht.“
Delamotte widersprach ihm: „Wenn er immer so impulsiv getötet hätte, würde ich zustimmen. Aber bei seinen vorherigen Morden ist er äußerst kontrolliert und planvoll vorgegangen. Das passt hier nicht.“
Delamotte bemerkte, dass Marino nach oben blickte – eine Geste, die sein Kumpel ihm abgeguckt hatte, wie ihm gerade auffiel. „Warte mal“, sagte Marino, „wie wäre es denn hiermit? Du sagtest gerade, der Impuls zu töten war schon in ihm drin, als der Arzt an ihm vorbeirauschte. Und wenn es mehr als nur ein Impuls war?“
Die Aufmerksamkeit seines Freundes und Kollegen war Marino sicher: „Was, wenn er bereits den Vorsatz hatte? Was, wenn er bereits einen Plan hatte?“
„Ja“, sagte Delamotte mit fragendem Unterton.
„Pläne können scheitern“, erklärte Marino mit dem Anflug eines Schulterzuckens.
Es klingelte. Delamotte ging zur Tür; draußen stand Britta Kowallik, an der Hand einen vielleicht vierjährigen, blonden Jungen, der Delamotte etwas skeptisch beäugte.
„Hi Markus, wir sind zurück“, sagte Britta, „wenn es dir passt, kannst du ja später mal rüberkommen.“
Noch bevor Delamotte eine Antwort gefunden hatte, hörte er hinter sich eine freundliche Männerstimme: „Er kann auch früher rüberkommen, wenn es Euch passt.“
Marino war im Flur erschienen, lächelnd wie eine Mischung aus italienischem Charmeur und deutschem Lausbuben: „Ich bin eh bald weg. Sonst wird der Arbeitstag zu lang.“
Delamotte entging keineswegs, welchen Eindruck Claudio Marino auf Britta Kowallik machte. Er kannte Claudio lange genug und war solche Momente gewöhnt.
Angenehm überrascht nahm er zur Kenntnis, dass Brittas Aufmerksamkeit schon rasch wieder ihm gehörte: „Prima. Wie wär’s mit sieben?“
Delamotte nickte; zum zweiten Mal bereits fühlte er sich von Britta Kowallik ein wenig überrumpelt. Und das war ihm nicht mal unangenehm.
„Nett“, sagte ein immer noch grinsender Marino, nachdem eine lächelnde Britta und ein nicht mehr ganz so argwöhnischer Timmy in der Nachbarwohnung verschwunden waren.
„Claudio, bitte“, erwiderte Delamotte mit etwas genervtem Tonfall.
„Was?“, fragte Marino. „Was denn? Ich sage doch nur, sie wirkt zumindest sehr nett. Und wenn du einen guten Rat von einem Italiener annehmen würdest: halt dir jede Frau gewogen, mein Freund – ganz besonders die Netten. Denn Jungs wie wir werden nicht jünger, das sage ich dir.“

Am frühen Abend saß Delamotte auf einem hellblauen Sofa; die beiden Sessel und der Tisch waren im gleichen Farbton gehalten. Die Wände erzeugten mit einem hellen Orangeton ein sommerliches, lockeres Gefühl. Auf dem Weg von der Wohnungstür durch den Flur hatte er gesehen, dass Brittas Wohnung generell sehr fröhlich und farbenfroh gehalten war. Kindgerecht, dachte er; doch rasch musste er sich korrigieren – auch einem erwachsenen Mann in seinem aktuellen Gemütszustand tat diese leichte Atmosphäre gut.
„Warum hast du keine Uniform?“ Delamotte war überrascht; vor ihm stand Timmy, in einem bunten Schlafanzug, und blickte neugierig zu ihm hoch. „Die Polizisten, die ich bisher gesehen habe, hatten alle eine Uniform. Warum hast du keine?“, fragte er.
Delamotte lächelte: „Das ist eine sehr kluge Frage, Timmy. Dann muss ich dir mal ein Geheimnis verraten.“ Der Junge sah ihn mit gespanntem Gesichtsausdruck an. „Ich muss ja Räuber fangen“, erklärte Delamotte, „und wenn ich dann eine Uniform anhätte, würden die Räuber ja sofort sehen, dass ich bei der Polizei bin.“
„Und weglaufen“, ergänzte Timmy mit einem Grinsen.
„Genau“, bestätigte der Psychologe, „das würden sie sofort. Also ist es besser, keine Uniform zu tragen, wenn man Räuber fangen will.“
Timmy nickte, offenbar um eine Erkenntnis reicher. „Ich werde dein Geheimnis auch nicht verraten“, versprach er.
„Das ist sehr lieb von dir“, lobte Delamotte.
In der Türe stand Britta, und was sie sah schien ihr zu gefallen.
Nachdem sie Timmy ins Bett gebracht hatte, holte Britta aus der Küche ein Tablett mit geschnittenem Baguette, einer Käseplatte und einem Teller intensiv duftender Ćevapčići. Von einem weiteren Gang kam sie mit zwei Flaschen Bier und einer Flasche Sprudel zurück. Sie setzte sich in einen der Sessel, öffnete die Biere und reichte eines an Delamotte weiter: „Prost!“ Beide tranken einen Schluck.
Britta fragte: „Dein Freund eben, ist der auch bei der Polizei?“
Delamotte bejahte.
„Seid ihr beide am gleichen Fall dran, so als Kommissare?“, wollte sie wissen.
„Nicht ganz“, antwortete Delamotte, „Claudio ist Kommissar, ich nicht.“
Britta wirkte erstaunt: „Ich dachte, du bist bei der Polizei als Kommissar oder sowas.“
Er schüttelte den Kopf: „Ich arbeite zwar für die Polizei, bin aber kein Polizist, wenn man es genau nimmt. Ich bin Psychologe – forensischer Psychologe, so steht es zumindest sowohl auf meinem Diplom als auch in meinem Arbeitsvertrag.“
Seine Nachbarin grinste: „Also sowas wie diese Profiler im Fernsehen?“
Delamotte zuckte leicht zusammen; er mochte dieses Wort nicht besonders. Ja, erklärte er Britta, zu seinen Aufgaben gehörte natürlich auch das Erstellen von Profilen. Was er ihr verschwieg war der Umstand, dass er in den beiden Jahren in Amerika sogar ganz offiziell Profiling studiert hatte.
„Mir gefällt die Bezeichnung ‚forensischer Psychologe‘ besser“, sagte er, „das klingt irgendwie wissenschaftlicher.“
Er probierte eines der Ćevapčići – es schmeckte vorzüglich, was er seiner Gastgeberin auch zu verstehen gab.
„Ich habe das Rezept von meiner Noch-Schwiegermutter“, sagte Britta.
„Darfst du es weitergeben, oder muss es in der Familie bleiben?“, fragte Delamotte.
Britta lachte: „Nachdem du Timmy so bereitwillig ein Geheimnis verraten hast, kann ich ja nicht in eisernes Schweigen verfallen.“
Sie nahm ein Post-it vom Fernsehtisch und machte sich eine Notiz: „Damit ich nicht vergesse, dir das Rezept aufzuschreiben.“
„Diese Dinger gehören bei mir zu den meistgenutzten Arbeitsmitteln“, erklärte Delamotte.
Britta fragte ihn, wie er überhaupt zur Psychologie gekommen sei.
„Na ja, es hat mich schon als Teenager interessiert, warum Menschen so ticken, wie sie ticken“, erzählte er.
Auf seinem Gymnasium war Psychologie nicht als Fach angeboten worden, er hatte stattdessen Pädagogik als Leistungskurs gewählt – da steckte zumindest etwas Psychologie mit drin. Dass auch seine eigene Verfassung nach dem Ende einer Affäre mit einer verheirateten Frau bei der Wahl des Studiums eine Rolle gespielt hatte – dies Britta gegenüber zu erwähnen, erschien ihm noch zu früh.
Die Rolle von Ali erwähnte er dagegen sehr wohl, und wie er Kriminalistik als Zweitfach gewählt und sein Praktikum bei der Klinik in Altenstein gemacht hatte und ein Jahr später auch sein erstes bei der Polizei, wo er noch nichts mit Pesch zu tun gehabt hatte, wie ihm wieder einfiel, dafür aber mit Lüttges und Neumann. Letzterer war es auch gewesen, der ihm vorgeschlagen hatte, sich für das Stipendium in Amerika zu bewerben.
„Ich habe meine Bewerbung hingeschickt und gedacht, die nehmen mich garantiert nicht. Vor allem für die Aussage, dass die Frucht des Verbrechens immer aus der persönlichen Schuld des Verbrechers erwächst“, sagte Delamotte.
„Was ist denn daran so ungewöhnlich, das stimmt doch einfach“, warf Britta ein.
Er widersprach sanft: „Hier in Deutschland, oder eigentlich generell in Europa gelten doch die allermeisten Übeltäter bei vielen Leuten als bedauernswerte Opfer der Gesellschaft, reine Objekte ihrer sozialen Umstände.“
„Sehe ich überhaupt nicht so“, sagte Britta.
„Dann hätten dir die Amerikaner so gut gefallen wie mir“, erklärte Delamotte. Gerade Ray Greene hatte diesbezüglich ganz eindeutige Ansichten gehabt. „Mein Dozent dort, der hauptberuflich beim FBI arbeitete und sich auch ganz offiziell als Profiler bezeichnete, hat mir dann dazu verholfen, aus dem einjährigen ein zweijähriges Stipendium zu machen“, fügte er hinzu.
Abgeschlossen hatte er sein Studium dann aber, trotz Rays Werben, in Deutschland. Auch wenn das bedeutet hatte, zunächst in anderen Feldern der Psychologie zu arbeiten als bei der Polizei.
„Ich hatte zwei Teilzeitjobs – den einen als wissenschaftlicher Assistent am psychologischen Seminar der Uni, und den anderen als Therapeut in Altenstein“, erzählte er, „bei der Polizei bin ich erst seit gut drei Jahren.“
Britta zögerte einen Moment, bevor sie ihn fragte: „Hast du deine Ex kennengelernt, als du schon bei der Polizei warst?“
Delamotte zwang sich ein Lächeln ab: „Nein, wir waren schon länger zusammen. Ich habe Sonja bei einer Veranstaltung für Diplomanden kennengelernt – da wurde uns akademischen Eierköpfen beigebracht, wie man sich um einen Job bewirbt und so was. Sie war gerade mit ihrem Diplom in Biologie beschäftigt.“
Er hielt inne; sollte er Britta erzählen, dass seine Beziehung vielleicht gerade daran gescheitert war, dass er sich für die Polizei entschieden hatte? Oder sich verteidigen, denn schließlich hatte er Sonja von Beginn an klargemacht, dass er forensischer Psychologe war, und die hatten nun mal mit Verbrechen und Verbrechern zu tun, und zwar nicht mit den kleinen Fischen.
Britta erkannte sein Dilemma, legte die Hand auf seinen Unterarm und sagte leise: „Du brauchst nicht darüber zu reden, wenn du nicht magst.“
Delamotte bedankte sich; verdammt, er hatte in den Tagen zuvor gedacht, er wäre fast schon über die Trennung hinweg.
Sie stand auf und holte zwei weitere Flaschen Bier aus der Küche.
Delamotte fing sich rasch wieder und wechselte das Thema: „Du hast letztes Mal erwähnt, dass deine Eltern im Taunus wohnen. Stammst du auch daher?“
Britta lächelte: „Also laut meinen Papieren bin ich eigentlich ein Frankfurter Mädchen. Aber meine Eltern haben das Haus im Taunus gebaut, als ich gerade mal drei Jahre alt war. Großgeworden bin ich also auf dem Land, nicht in der Stadt. Erst nach der Schule bin ich wieder nach Frankfurt gezogen.“
„Und wie bist du dann in Marßen gelandet?“, wollte Delamotte wissen.
„Das war kurz nach der Hochzeit“, erzählte sie, „Radi hatte ein tolles Jobangebot von einer Bank hier in Marßen bekommen.“
„Lass mich raten: Brinckmeyer“, tippte Delamotte. Das größte private Bankhaus des Bundeslandes war bekannt dafür, junge Talente aus Frankfurt anzuwerben. Damit sicherte sich die Bank nicht nur den neuen Mitarbeiter, sondern auch dessen Netzwerk in der Bankenmetropole Deutschlands und Europas.
Britta bestätigte seine Vermutung: „Radi war begeistert, die Position hier war besser und natürlich auch deutlich besser bezahlt. Also zogen wir nach Marßen.“ Sie ergänzte ein wenig bitterlich: „Klingt nicht gerade emanzipiert, oder?“
Delamotte zuckte mit den Schultern: „Warum denn? Für mich klingt es erst mal vernünftig, rational, pragmatisch.“
Sie plauderten noch ein wenig über Brittas Familie. Dann blickte seine Gastgeberin auf die Uhr: „Oh, so spät schon. Guckst du eigentlich Schenck?“
Delamotte nickte. Sie schaltete den Fernseher ein, es liefen noch einige Werbespots, was Britta die Zeit gab, noch etwas Nachschub an Bier zu holen. Dann ertönte die Melodie, die Delamotte bereits vor einigen Tagen vor dem Einschlafen gehört hatte. Rob Schenck erschien in einem gewohnt bunten Sakko auf dem Bildschirm.
Im Mühlenviertel hatte Delamotte die Sendung meist allein gucken müssen. „Schon wieder dieser Typ mit seinem breiten Grinsen und seiner großen Klappe“, hatte Sonja oft gesagt, um dann aus dem Wohnzimmer zu verschwinden.
Ihm kam ein Gedanke; es tat gut, die Show von Rob Schenck in Gesellschaft zu gucken.

Delamotte hatte diverse Pins in die große Karte der Stadt Marßen gesteckt, die an der Wand von Manni Lüttges‘ Büro hing. Lüttges, Marino, Maas und Henseler hatten es sich auf verschiedenen Bürostühlen bequem gemacht – sofern die Bürostühle im Präsidium als bequem zu bezeichnen waren. Pesch war kurz zuvor hinzugekommen und stand in der Türe. Am Vormittag hatten Marino und Delamotte zunächst unter vier Augen besprochen, wie sie die erneute Vernehmung interessanter Zeugen aus dem Fall Sötenich angehen wollten. Dabei hatte Delamotte seinen Kumpel darauf vorbereitet, dass er das Vorhaben ein wenig erweitern und anpassen wollte.
Er fasste den Stand der jüngsten Ermittlungen zusammen: „Wir haben eine Menge Leute befragt, Ideen und Ansätze abgewogen, eine Menge Arbeit investiert – aber so richtig viel ist nicht rausgekommen. In erster Linie der Hinweis von Sötenichs geschiedener Exfrau, der es möglich erscheinen lässt, dass der Uhu Sötenich bereits Jahre vor dem Mord kurze Zeit beobachtet haben könnte. Kurz nach Verhängung seines einmonatigen Fahrverbots.“
Henseler ließ einen leisen Pfiff hören, was ihm einen kritischen Blick Peschs einbrachte.
„Was ist mit diesem Kerl, den Sötenich selber bemerkt hat? Diesem vermeintlichen Privatdetektiv?“, wollte der Hauptkommissar wissen.
Lüttges schüttelte den Kopf: „Den hatte tatsächlich Manuela Sötenich auf ihren Ex angesetzt – auch Jahre nach der Scheidung war sie immer noch eifersüchtig und wütend auf ihn. Der Typ war übrigens kein Detektiv, sondern ein Student – der Neffe einer guten Freundin oder sowas.“
„Kein Wunder, dass er Sötenich aufgefallen ist“, bemerkte Maas.
Delamotte nutzte die Gelegenheit und sprach Maas direkt an: „Bei Euren Untersuchungen ist auch nicht so viel herausgekommen, oder?“
Die Kommissarin antwortete: „Danke für die Formulierung ‚nicht so viel‘ – wir haben eigentlich gar nichts, die beiden einzigen interessanten Kandidaten haben jeder für mindestens zwei der Morde ein wasserdichtes Alibi.“
Der Psychologe hatte das bereits von Marino erfahren, der den Kenntnisstand von Henseler hatte. Er blickt in Richtung Pesch: „Jakob, du wirst dich sicher noch an unser Gespräch am Abend des Karfreitags erinnern.“
Pesch nickte zustimmend; ihm wurde klar, dass Delamotte mit dem Verweis auf ihre damalige Diskussion die ganze Runde sehr geschickt auf einen neuen Gedanken vorbereitete, was der Psychologe dann auch direkt tat: „Wir haben seinerzeit noch einen weiteren Ansatz gefunden, die lange Pause zwischen dem dritten und dem vierten Mord zu erklären.“
Auch das Wort ‚wir‘ fiel Pesch sofort auf – cleverer Bursche, dachte er.
Auf jeden Fall hatte Delamotte mit dieser Einleitung die Aufmerksamkeit der Ermittler gewonnen, und wies nun auf die Möglichkeit hin, dass der Uhu kurz nach dem dritten Mord aufgeschreckt worden sein könnte.
„Ihr habt damals mit ziemlich vielen Leuten gesprochen“, erklärte er, „stellen wir uns einfach mal vor, einer von denen ist der Mann, den wir suchen. Oder eher noch: einer, der so ein Gespräch mit einem Zeugen beobachtet hat. Ein Nachbar, ein Kollege.“
„Meist du nun nur Gespräche mit Zeugen aus dem Fall Sötenich? Die haben wir ja relativ früh in der Ermittlung geführt“, warf Henseler ein.
Delamotte ging auf den Einwand ein: „Ich denke einerseits, dass wir uns auf Gespräche konzentrieren sollten, die kurz nach dem Mord an Dorn stattgefunden haben – egal zu welchem Fall. Andererseits möchte ich einen Aspekt zum Fall Sötenich einbringen: er war das erste Opfer, und ich bin ziemlich überzeugt, dass der Täter nicht weit von Sötenichs Haus entfernt lebt.“
Er wies auf den ersten Pin in der Karte hin: „Hier hat Karlheinz Sötenich gewohnt, in Holzweiler, im Süden des Stadtbezirks Burbach.“ Delamotte hatte bewusst den Vornamen des Opfers genannt – es erhöhte die Aufmerksamkeit von Zuhörern, wenn sie einen persönlichen Bezug herstellen konnten.
Der Kundenkreis des Malermeisters ließ sich weitestgehend auf die östlichen Stadtbezirke eingrenzen – genauer gesagt, die nordöstlichen.
„Wir haben uns seine Einsätze in den fünf Jahren vor seiner Ermordung angeguckt“, sprang Lüttges dem Psychologen zur Seite, „südlich von Heppel ist er nie tätig gewesen, und ganz selten mal innerhalb des Parkgürtels. Von den westlichen Stadtteilen ganz zu schweigen.“
„Und was bedeuten dann die anderen Pins?“, wollte Jutta Maas wissen.
Delamotte erklärte: „Das sind die Orte, an denen Manuela Sötenich vor Jahren dieser mysteriöse Fremde aufgefallen ist. Hier der Ramersfelder Hof; da war Sötenich später auch regelmäßig kegeln, unter anderem ja auch am Abend seiner Ermordung.“ Der Pin steckte auf der Karte im Süden von Burbach, direkt am Ufer der Siever, die hier die Grenze zum Bezirk Blatzheim bildete.
„Dort haben wir das Haus in Altenstein, wo Sötenich einen Auftrag hatte und seine Frau den Fremden ebenfalls bemerkte.“
Der letzte Pin markierte den Supermarkt, an dem der Fremde hinter den Sötenichs an der Kasse gestanden hatte – das Geschäft lag im Norden des Stadtbezirks Raggerscheid.
„Sieht nach einem relativ überschaubaren Gebiet aus“, sagte Marino.
„Na, klein ist es nicht“, widersprach Pesch, „das ist fast der komplette frühere Landkreis Altenstein.“
Delamotte stimmte zu: „Nimm noch den äußersten Osten von Sonnenthal dazu und den Norden von Raggerscheid – und uns interessieren ja nicht nur die Zeugen, die ihr kurz nach dem dritten Mord vernommen habt, sondern auch alle, die von der Vernehmung was mitbekommen haben.“
„Sofern wir das noch rekonstruieren können“, gab Lüttges zu bedenken, „ich habe auf jeden Fall schon mal die Vernehmungsprotokolle rausgesucht.“
„Falls du Unterstützung brauchst, lass es uns wissen“, bot Maas an, und Henseler nickte. Auch Marino machte eine entsprechende Geste.
„Gut, das klingt für mich nach einem Plan“, sagte Pesch, „macht weiter so.“
Auf dem Weg zurück zu seinem Büro kam dem Hauptkommissar ein Gedanke, der einem Teil von ihm nicht gefiel. Doch der Gedanke war nun mal da. Wenn der Plan zu einem Ergebnis führte: umso besser. Und wenn nicht: dann war es ja nicht sein Plan.

Delamotte schnitt zwei Zucchini in dünne Scheiben, während er Hardy zuhörte. Vor ein paar Monaten noch hätte er das nicht gekonnt – erst Kata hatte ihm gezeigt, dass man beim Handy einfach die Lautsprecherfunktion einschalten musste, um dann völlig freihändisch zu telefonieren. Und auch seine Ohren waren glücklich über die Schonung; früher hatte er das Telefon immer zwischen rechts und links hin und her wandern lassen, und am Ende waren beide Ohren heiß gewesen.
Er hatte seinen älteren Bruder kurz nach seiner Heimkehr angerufen; wie so oft war Hardy noch im Büro, die Arbeit im Parlament war für einen politisch so interessierten Menschen wie ihn hochgradig spannend, aber auch mit langen Arbeitsstunden verbunden. Vor allem dann, wenn manche Minister partout nicht einsehen wollten, dass der wissenschaftliche Dienst des Bundestages eben genau dazu da war, wissenschaftlich fundierte Antworten zu geben und nicht diejenigen, die der besagte Minister gerne gehabt hätte. Und auch vollkommen unabhängig davon, ob der Fragesteller aus den Reihen der regierenden Parteien stammte, oder aus denen der Opposition.
„Trittin ist jedenfalls alles andere als glücklich“, klang Hardys Stimme aus dem Telefon.
„Ich denke mal, es gehört nicht unbedingt zu den Dienstvorrechten von Ministern, allzeit glücklich zu sein“, bemerkte Delamotte.
Sein Bruder stimmte dem ohne langes Zögern zu.
Vorsichtig sprach Delamotte ein anderes Thema an: „Wann sehen wir uns eigentlich mal wieder?“
„Du bist jederzeit bei uns willkommen“, antwortete Hardy, „und dass Berlin eine coole Stadt ist, weißt du ja schon.“
„Weich bitte nicht aus, großer Bruder“, mahnte Delamotte, „dir ist schon klar wie ich das meinte.“
Vor seinem geistigen Auge sah er Hardys schuldbewussten Gesichtsausdruck: „Ja, ich weiß. Und du weißt, dass es mir nie wirklich leichtfällt, nach Bliesfeld zu kommen.“
„Mama wird sechzig diesen Herbst, das ist dir schon klar, oder“, sagte Delamotte, während er die gehackten Zwiebeln und Knoblauch in die heiße Pfanne gab.
„Ja, ich weiß“ – man hörte deutlich, dass Hardy ein wenig genervt war, was bei ihm selten passierte, außer es ging um Bliesfeld. „Du kannst schon sicher sein“, fuhr er fort, „dass ich mich vor dieser Feier garantiert nicht drücken werde.“
„Prima“, sagte Delamotte, „Mama wird sich freuen.“ Er korrigierte sich: „Wir alle werden uns freuen.“ Er ersparte sich und seinem Bruder die Frage, ob er alleine zu Mutters Geburtstag kommen würde.
Delamotte löschte Zwiebeln und Knoblauch mit einem Schuss Müller-Thurgau ab, das Zischen der Pfanne war überraschend laut.
„Hör mal, Markus“, sagte Hardy, „diese Küchengeräusche machen mich hungrig, und ich habe noch ein bisschen was wegzuarbeiten, bevor ich an Essen denken kann.“
„Kein Problem, mein Lieber“, antwortete Delamotte, „fühl dich umarmt, und grüß Didier von mir.“
„Mach ich“, hörte er Hardy sagen, „und pass gut auf dich auf, kleiner Bruder.“
Delamotte lächelte: „Das muss ich ja wohl, wenn mein großer Bruder so weit weg ist.“

„Wisst ihr vielleicht, wo Marino abgeblieben ist?“
Maas und Henseler blickten auf, die Kommissarin beantwortete Delamottes Frage: „Auf dem Schießstand, zusammen mit Pesch und Lüttges. Obligatorische Auffrischungsübung. Niclas und ich waren schon vorletzte Woche da.“
„Wann sind die drei wieder zurück?“, fragte Delamotte.
„Das kann noch dauern“, antwortete Henseler, „der Schießstand liegt in Schwabstadt.“
„Mist“, schimpfte Delamotte, „gerade habe ich für ein Uhr einen Tisch für vier Personen reserviert.“
„Warum für vier, wollten Pesch und Lüttges auch essen gehen?“, wollte Maas wissen.
„Das nicht, aber Sabine und Ludes kommen dazu“, erklärte Delamotte, „wir wollen mal das Bon Temps testen.“
Maas schien schon mal von dem Restaurant gehört zu haben: „Ist das dieser neue Laden an der Ecke Lennéstraße?“
Delamotte nickte.
Henseler bemerkte: „Hört sich französisch an.“
„Cajun-Küche“, antwortete der Psychologe, „aus Louisiana.“
„Taugt die was?“, fragte Maas.
„Habe sie mal direkt vor Ort genossen, westlich von New Orleans, sehr lecker“, bestätigte Delamotte.
Maas wusste, dass man sich auf Delamottes Geschmack verlassen konnte: „Na, dann bleibt’s bei vier Leuten.“
„Mach fünf draus“, sagte Henseler.

Knapp zwei Stunden später saßen sie an einem länglichen Tisch im Bon Temps, aus dem Lautsprecher tönte Musik – Delamotte kannte die Band, von Beausoleil hatte er selber auch ein paar CDs.
„Du bist also mal in Louisiana gewesen?“, fragte Maas, die ihm gegenübersaß.
Delamotte bestätigte: „Während meines Studiums. Einer meiner Kommilitonen, Charlie Fontenot, war ein Cajun. Er stammte aus einer Kleinstadt südwestlich von Lafayette.“
Mit einem Schmunzeln erinnerte er sich: „Wenn wir vor den anderen in der Studiengruppe etwas geheim halten wollten, brauchten wir nur Französisch miteinander zu sprechen.“
Charlie hatte ihn mal für ein verlängertes Wochenende nach Acadiana mitgenommen.
„Und kommt dir das Restaurant authentisch vor?“, fragte Thomas Ludes.
„Von der Einrichtung her ein bisschen zu schick, würde ich sagen“, antwortete Delamotte, „aber die Speisekarte sieht schon ziemlich gut aus.“
„Jede Menge Fisch und Meeresfrüchte“, stellte Sabine Greven fest, und sie schien davon sehr angetan zu sein.
„Das ist mir auch schon aufgefallen“, bestätigte Maas.
„Was ist denn ein Southern Fried Catfish“, wollte Henseler wissen.
„Catfish bedeutet Wels“, warf Ludes ein.
Greven verzog etwas das Gesicht: „Wels habe ich einmal gegessen, schmeckte irgendwie schlammig.“
„Dann hat der Koch den Wels vorher nicht in Milch eingelegt“, klärte Delamotte auf.
Henseler grinste: „Ich verlasse mich mal darauf, dass der Koch hier weiß, was er tut. Wels habe ich nämlich noch nie gegessen.“
Die Bedienung kam und nahm die Bestellungen auf – Henseler war nicht der einzige, der sich für Fisch entschieden hatte, denn Maas‘ Wahl war auf Blackened Redfish gefallen, und Greven bestellte sich ein Flusskrebs-Ragout. Staatsanwalt Ludes war der Enten-Gumbo ins Auge gesprungen, und Delamotte war gespannt darauf, wie authentisch dieses Restaurant einen Jambalaya hinbekam.
„Wie wär’s mit einem Wein dazu?“, fragte Ludes.
Delamotte nickte: „Lass mal überlegen: einmal Flussfisch, einmal Meeresfisch, einmal Schalentiere. Und zweimal deftig-kräftig.“ Er überlegte, während er sich die Weinkarte griff: „Das schreit nach einem Rosé, oder?“ Da er keinen Widerspruch vernahm, bestellte er einen Grenache Rosé aus San Luis Obispo.
Nachdem der Kellner die Weingläser gefüllt hatte, erwähnte Ludes: „Vor ein paar Jahren hatte ich mal die Gelegenheit, einen Monat lang bei den Kollegen der Staatsanwaltschaft in Marseille zu hospitieren. Mich hat damals sehr überrascht, dass bei jedem Mittagessen selbstverständlich auch Wein auf dem Tisch stand – sogar in der Kantine.“
Delamotte ergänzte: „Wenn ich mir so die Erzählungen meiner Eltern anhöre, war das früher in Deutschland ganz ähnlich.“ Erst in den letzten Jahren, dachte er, hatte sich so eine Art Neopuritanismus breitgemacht – leider ausgehend von Amerika, wie er sich schmerzhaft eingestehen musste. Aber in Deutschland schien das auf besonders fruchtbaren Boden zu fallen – wie schon so manche vermeintliche Heilslehre.
Wenig später kam das Essen, und Delamotte stellte mit etwas Überraschung fest, dass sein Jambalaya fast so gut war wie derjenige, den er damals in einer kleinen Pinte genossen hatte – zubereitet und serviert von einer alten Frau, die jeder Mensch mit Herz liebend gerne als Großmutter gehabt hätte. Die anderen schienen ebenfalls sehr zufrieden zu sein; Greven ließ es sich nicht nehmen, ein Stückchen von Henselers Catfish zu probieren.
„Stimmt, der Koch hier beherrscht sein Metier – das schmeckt alles andere als schlammig“, bemerkte sie.
„Wenn ich ihn mal in dieses Restaurant hier schleppe“, sagte Maas, „wird Roland erst recht darauf hoffen, mal über den Atlantik fliegen zu können.“
Die anderen blickten sie fragend an, und sie erklärte: „Er ist Co-Pilot bei Air Marssen.“
Jeder am Tisch kannte die Airline sehr gut und alle waren bestimmt auch schon mal mit ihr geflogen. Als Anfang der 70er Jahre auf dem Gelände eines früheren Militärflugplatzes in Rott der neue internationale Flughafen der Stadt errichtet worden war, hatten ein paar flugbegeisterte Investoren die Gesellschaft gegründet, damals noch unter dem Namen „Flugunternehmen Marßen“, oder kurz „FUM“, als reiner Ferienflieger. Aber erst verschiedene Liberalisierungen im europäischen Luftverkehr hatten aus der Airline, nun unter neuem Namen, einen für die etablierten Unternehmen oftmals ärgerlichen Konkurrenten gemacht.
Für die Landesregierung ergab sich daraus ein verkehrspolitischer Spagat; einerseits war man stolz darauf, eine aufstrebende Airline im Land zu haben. Andererseits wollte man es sich mit den etablierten Linien nicht ganz verscherzen, hoffte man im Verkehrsministerium an der Wilhelmsallée doch, man könne die Lufthansa dazu bewegen, auch interkontinentale Flüge ab Marßen anzubieten. Bislang musste nämlich jeder, der über Europa und die Mittelmeeranrainer hinaus wollte, den Umweg über Frankfurt nehmen.
„Na, dann muss Air Marssen aber mal ins Transatlantik-Geschäft einsteigen, oder“, warf Ludes ein.
„Wer weiß“, sagte Maas und lächelte versonnen.

Kurz nach der Rückkehr ins Präsidium lief Delamotte Marino über den Weg.
„Und, alle bösen Buben erschossen?“, wollte er wissen.
„Schön wär’s“, seufzte Marino, „falls du mich jemals unter Verdacht hattest, ich könnte der Uhu sein: streich mich von der Liste. Ein Meisterschütze werde ich nie.“
Delamotte konnte Marinos Frustration verstehen: streng genommen mussten Kommissare ihre Schusswaffen möglichst gut beherrschen, womit Marino aber schon immer etwas gekämpft hatte.
„Übrigens, ich habe auf der Fahrt zum Schießstand Pesch und Lüttges mal von unserem Gedankentennis erzählt“, berichtete Marino.
Delamotte war sich nicht sicher, wie er diese Information einordnen sollte.
„Du weißt doch noch“, fuhr Marino fort, „diese Idee, dass der Uhu am Tag vor Gründonnerstag bereits einen konkreten Plan hatte, jemanden zu töten. Und dieser Plan dann gescheitert ist.“
Der Psychologe nickte – ja, das war ein interessanter Ansatz, den er in den letzten Tagen fast vergessen hatte.
Marino ergänzte: „Manni hatte dann einen coolen Einfall – er meinte, unser Mann könnte vielleicht tatsächlich einen Mord geplant und versucht haben. Und zwar in Holland.“
Delamotte war verblüfft – an diese Möglichkeit hatte er noch gar nicht gedacht.
„Auf jeden Fall wird er mal eine Anfrage an Interpol richten, mit den ballistischen Daten unserer vier Fälle“, schloss Marino ab.

Frustriert schlug er mit der Faust auf den Tisch. Er hatte es satt! Dieser Mann mit dem vermeintlich bekannten Familiennamen trieb ihn zur Verzweiflung. Morgens zur Arbeit. Nachmittags wieder zurück. Ab und zu mal Besuche im Supermarkt oder im Fitnessclub. Auch das dann immer vor Einbruch der Dunkelheit.
Am Wochenende war der Kerl mal ein bisschen von dieser Routine abgewichen. Er hatte einen Blumenstrauß gekauft und war losgefahren. Südwärts. Irgendwann hatte er die Autobahn verlassen. In einem der Weinorte im Ahrtal hatte er dann vor einem Haus, vermutlich aus den 50er Jahren, geparkt, und war reingegangen. Und am späten Nachmittag wieder rausgekommen.
Der Computer hatte später die Information ausgespuckt, dass in besagtem Weinort ein Ehepaar des gleichen bekannten Namens lebte. Wahrscheinlich die Eltern, dachte er.
Nein. So kam er nicht weiter. Zwar spürte er immer noch diesen altmodischen Impuls, was die zweite Karteikarte anging. Aber zumindest war er in den letzten Tagen zweigleisig gefahren. Er hatte auch der zweiten Karteikarte etwas Aufmerksamkeit geschenkt. Und er hatte eine wertvolle Information erhalten, am Nebentisch in einer Filiale dieser amerikanischen Cafékette sitzend, die sich in jüngster Zeit in Deutschland ausbreitete. Falls er die Information korrekt verarbeitet hatte, wäre die Gelegenheit einzigartig günstig.
Und warum sollte er sich das von einem altmodischen Impuls versauen lassen?

Es dauerte einige Zeit, bis Delamotte die Quelle des Geräuschs identifizieren konnte, das seinen Schlaf so jäh unterbrochen hatte. Er quälte sich aus dem Bett und ging zu dem Stuhl, über dessen Lehne seine Jacke hing. Er zog das Handy aus der Tasche, sah die Uhrzeit – kurz vor vier Uhr früh. An einem Samstag. Und schlagartig wurde er wach.
Vor dem Zubettgehen hatte er sich eindeutig besser gefühlt. Und noch im Bett hatte er über die vergangenen Tage nachgedacht. Zuletzt hatte er die Rob Schenck Show erfreulich oft in Gesellschaft geguckt. Für Timmy schien seine abendliche Anwesenheit im Wohnzimmer fast schon etwas völlig Natürliches zu sein. Für ihn selbst vermutlich auch. Am vorherigen Wochenende hatte er mit Britta und Timmy einen Spaziergang im Schlosspark gemacht, und der Junge hatte so manches über das Bliesfelder Schloss und die Herzöge von Marßen gelernt. Und Delamotte hatte sich selbst damit überrascht, die Geschichte des Landes für ein Kind verständlich erklären zu können. Hinterher waren sie bei Giannini am Marktplatz Eis essen gewesen.
Kurz vor dem Einschlafen hatte Delamotte sogar darüber nachgedacht, ob es wirklich zu früh wäre, ein gemeinsames Wochenende im Hohen Venn vorzuschlagen. Timmy könnten die Höhlen von Remouchamps gut gefallen, hatte er gedacht. Und Britta natürlich auch.
Doch ein eher unangenehmer Unterton hatte sich in seine Gedanken gemischt, während er langsam in den Schlaf hinübergeglitten war. Flüchtete er sich gerade etwa ins Privatleben? Denn er musste sich eingestehen, dass die Ermittlungen auf der Stelle traten. Delamotte hatte die letzten Tage zumeist frustriert im Präsidium verbracht, Gesprächsprotokolle studiert, mit den Ermittlern über die Befragungen gesprochen, versucht Witterung aufzunehmen. Nichts.
Pesch war am Apparat: „Kennst du den Globus in Berschweiler?“
Delamotte war schon einmal an dem Supermarkt vorbeigefahren, er bejahte die Frage.
„Dann setz dich in Bewegung“, sagte Pesch, „Marino wird sich dort mit dir treffen.“
Delamotte war etwas verwirrt: „Wann?“
Pesch reagierte sehr unwirsch: „Wann? Jetzt sofort, wann denn sonst? Wann! Wann!“
Und dann legte der Hauptkommissar auf. Delamotte zog sich schnell ein paar halbwegs frische Klamotten an; auf dem Weg zur Wohnungstür griff er sich ein paar Tartufi, für ein Frühstück oder wenigstens einen Kaffee war wohl keine Zeit.

Während er auf dem Autobahnring nordwärts fuhr, dachte er über den Anruf nach. Es musste um den Uhu gehen, alles andere machte keinen Sinn. Ein weiterer Mord? Auf dem Parkplatz eines Supermarkts, mitten in der Nacht? Und warum sollte Marino sich dort mit ihm treffen?

Die beiden kamen fast gleichzeitig auf dem riesigen Parkplatz an. Die Morgendämmerung setzte gerade erst ein – und weit und breit kein Blaulicht oder sonst irgendetwas, dass auf einen Tatort hinwies. Marino war in seinem Auto sitzen geblieben und winkte Delamotte zu sich. Der Psychologe schloss seinen Wagen ab und setzte sich auf den Beifahrersitz des BMW.
„Pesch ist wahrscheinlich schon am Tatort“, erklärte Marino, „als er bei dir und mir angerufen hat, kannte er die genaue Adresse noch nicht, deshalb der Treffpunkt hier.“ Der Kommissar wies auf den Bildschirm seines Navis: „Er hat mir die Adresse gerade durchgegeben – irgendwo am Rand von Vernay.“
Als Marino auf die Aachener Straße abbog, fragte Delamotte: „Ist es das, was ich befürchte?“
Sein Kumpel nickte: „Pesch sagt, fast alles sieht nach dem Uhu aus.“
„Was meint er mit ‚fast alles‘?“, fragte Delamotte.
„Das habe ich ihn auch gefragt“, antwortete Marino.
„Und?“, drängte Delamotte auf eine Antwort.
Marino hielt an einer roten Ampel und drehte sich zu seinem Beifahrer: „Das Opfer ist weiblich.“