Mendelssohns Schweiz: «Es ist kein Land wie dieses»
Von Susanne Kübler. Aktualisiert am 02.02.2009

Vor 200 Jahren wurde Felix Mendelssohn geboren. Seine Reisen führten ihn auch in die Schweiz – und in Rüschlikon lebt ein Urenkel.

Thomas Wach zeigt den Druck eines Aquarells seines Urgrossvaters: Felix Mendelssohn hatte das Dorf Unterseen bei Interlaken 1847 gemalt. (Bild: Dominique Meienberg)

Neue CDs und Bücher zu Mendelssohns Geburtstag

Susanne Kübler

Wo ein Jubiläum ist, da ist auch Anne-Sophie Mutter. Das bestätigt sich nun wieder bei Felix Mendelssohns 200. Geburtstag: Zusammen mit dem Gewandhausorchester Leipzig unter Kurt Masur hat sie das Violinkonzert live eingespielt, mit ihren bewährten Kammermusikpartnern Lynn Harrell und André Prévin gibts das erste Klaviertrio und die F-Dur-Violinsonate, und all das in einem Package mit CD und DVD (Deutsche Grammophon). Das farblich sehr gewagte Cover mit der Künstlerin in Himmelblau vor knallrosa Landschaft sorgt dafür, dass die Aufnahme in den Läden bestimmt nicht übersehen wird. Und natürlich erfüllt Mutter alle Erwartungen: mit glasklarem Ton, mit einer Technik, die sie selbst im fulminanten Finale des Konzerts nie ins Schwitzen bringt. Da ist alles durchdacht, durchgestaltet – und wirkt oft etwas geziert. Immerhin: Manchmal erlaubt sich die Geigerin auch einen forscheren Zugriff; und im Konzert wie bei der Kammermusik bewähren sich auch die Begleiter mit einigem Temperament.

Fast das gleiche Programm, mit dem zweiten Klaviertrio statt der Sonate, legt auch der Geiger Leonidas Kavakos vor (Sony) – mit ziemlich anderem Resultat. Wie Wachs formt er die Töne des Konzerts, dehnt sie ein wenig, lässt sie wieder fliessen; makellos spielt auch er, aber er setzt dabei immer wieder auf zigeunermusikalische Schleifer und andere Effekte. Zum Teil führt das zu magischen Momenten – wenn er etwa die Akkordbrechungen am Ende der Kadenz im ersten Satz zu Klanggischt zerstieben lässt. Schade nur, dass die vom Solisten geleitete Camerata Salzburg oft im Hintergrund bleibt. So fehlt der Aufführung jener Boden, den in der Kammermusik der Cellist Patrick Demenga und der Pianist Enrico Pace liefern: mit vollem, bassfreudigem Klang ergänzen sie Kavakos «hellen Ton» sodass diese Musik fast orchestraler wirkt als das Konzert.

Verblüffend magere Ausbeute

Was gibt es sonst an neuen Mendelssohn-Aufnahmen? Es ist verblüffend wenig. Das Klavierduo Tal & Groethuysen hat die 1. Sinfonie sowie das Oktett vierhändig bearbeitet (Sony) – aber für die Originale muss man auf ältere Einspielungen zurückgreifen. Und dann gibt es noch treue Interpreten wie den Dirigenten Frieder Bernius, der an einer Totalen der Kirchenmusik arbeitet und nun auf der 10. CD der Reihe die einst sehr beliebte, heute wenig bekannte Symphonie-Kantate «Lobgesang» von 1840 herausgebracht hat (Carus): Ein eigenwilliges Werk, das mit drei orchestralen Sätzen beginnt und mit neun vokalen weitergeht. Gelegenheiten für dramatische Ausbrüche, wie sie Bernius etwa in seinem «Elias» so überzeugend gestaltet, gibt es hier wenige; so liegt die Aufmerksamkeit auf vielen aparten Instrumentierungseinfällen und den vom Kammerchor Stuttgart emphatisch gesungenen und trotz Kirchenakustik nie verschwommen wirkenden Jubelrufen.

Ähnlich mager wie bei den CDs ist die Ausbeute übrigens bei den Büchern. Während zu den anderen 2009er-Jubilaren Händel und Haydn die Biografien gleich im Dutzend erscheinen, gibt es zu Mendelssohn nur eine einzige nennenswerte Publikation: Die deutsche Übersetzung von R. Larry Todds «Felix Mendelssohn Bartholdy – sein Leben und seine Musik» Immerhin: Es ist ein Standardwerk, das den Musiker und Menschen Felix Mendelssohn so facettenreich präsentiert, dass man auf flotte Jubiläumsschriften gern verzichtet.

Zur Person

Felix Mendelssohn

Das musikalische Talent von Felix Mendelssohn Bartholdy, der am 3. Februar 1809 als Sohn einer wohlhabenden jüdischen Familie geboren wurde, fiel früh auf. Als 9-Jähriger spielte er erstmals öffentlich Klavier, mit 10 begann er zu komponieren, u.a. für jene Hausmusiken, die jeden Sonntag im Berliner Haus der Mendelssohns stattfanden. 1816 wurde er christlich getauft.

Seine Ausbildung erhielt er bei Carl Friedrich Zelter, der ihn auch dem begeisterten Goethe vorspielen liess. Eine Pionierleistung vollbrachte Mendelssohn, als er 1829 Bachs lange vergessene «Matthäus-Passion» aufführte. Damals war sein Ruhm als Komponist, nicht zuletzt dank seiner Reisen nach Paris und London, bereits international.

1835 zog er nach Leipzig, wo er die Gewandhauskonzerte leitete und 1843 das Conservatorium, die erste Musikhochschule Deutschlands, gründete. Nach dem Tod seiner Schwester Fanny zog er sich aus dem öffentlichen Leben zurück. Wenige Monate später, am 4. November 1847, starb er mit erst 38 Jahren nach mehreren Schlaganfällen.

In der Wohnung von Thomas Wach sieht vieles indisch aus. Der Jurist, Jahrgang 1930, hat die schweizerisch-indische Handelskammer mitbegründet, und als Honorarkonsul hat er einige Jahre in Mumbai gelebt. Seine Frau stammt von dort, und nach wie vor reist er oft nach Indien. Auch nach Leipzig fährt er regelmässig, in die Heimatstadt seines Urgrossvaters Felix Mendelssohn. Oder ins Berner Oberland, das seit Generationen eine Rolle spielt für die Familiengeschichte.

Auch Felix Mendelssohn war viel unterwegs. Neunmal war er in England, das ihm gesellschaftlich und vom Musikbetrieb her zusagte. Und viermal – in den Jahren 1822, 1831, 1842 und 1847 – reiste er durch die Schweiz; hier war es die Natur, die ihn begeisterte. Schon auf der ersten Reise fertigte der damals 13-Jährige zahlreiche Zeichnungen an, von Bergen oder auch vom Zürcher Lindenhof, die neben seinem Enthusiasmus auch sein künstlerisches Talent belegen.

«Es ist kein Land wie dieses», schrieb er später in einem seiner zahlreichen Briefe, und er erforschte dieses Land (nach der ersten Familienreise mit Hauslehrer, Dienstboten und Kutsche) gern zu Fuss. Anders als zu seiner Zeit üblich war Felix Mendelssohn ein passionierter und offenbar gut trainierter Bergsteiger, der die Rigi erklomm oder über den Gemmipass das Berner Oberland erreichte, das er immer wieder kreuz und quer durchwanderte.

«Der schmutzige, nasse Fussreisende mit dem Bündel»

Selbst schlechtes Wetter konnte ihn nicht von seinen Touren abhalten. Danach, so formulierte er es, verwandelte sich der «schmutzige, nasse Fussreisende mit dem Bündel» jeweils wieder in einen «Städter mit Visiten Carten, reiner Wäsche und einem Frack». Und amüsiert berichtete er darüber, dass er im Hotel Interlaken einst wegen seines Aussehens nur sehr zögerlich bedient wurde – «jetzt wohnen wir wieder hier, als gemachte Leute».

Es war kein Zufall, meint Thomas Wach, dass seine Grosseltern in den 1880er-Jahren ausgerechnet in der Nähe von Interlaken ein Grundstück erwarben. Felix Mendelssohns jüngste Tochter Elisabeth, genannt Lili, war zwar erst zwei Jahre alt, als ihr Vater starb; aber sie war ihm dennoch sehr verbunden, ebenso ihr Mann Adolph Wach, der Professor für Jurisprudenz in Leipzig war, lange im Vorstand der Gewandhaus-Konzerte sass und Mendelssohns Nachlass verwaltete. Bei Wilderswil, einem Dorf, das Mendelssohn in seinen Briefen erwähnt hatte, baute das Ehepaar Wach das «Ried», ein prächtiges Chalet, das noch heute der Familie gehört.

Lili und Adolph Wach wurden in Gsteig bei Wilderswil beerdigt. Und in den 1930er-Jahren, als die längst christlich getauften Mendelssohns wieder als Nicht-Arier behandelt wurden und Deutschland nach allen Richtungen hin verliessen, war auch die Schweiz ein Ziel. Thomas Wachs Vater Adolph jr. wechselte nach Zürich; seine Tante Marie dagegen zog mit einer grossen Sammlung von Aquarellen, Briefen, Musikalien und Haushaltsgegenständen Felix Mendelssohns im Ried-Haus ein. In dieser Generation, so erinnert sich Thomas Wach, sei nie von Felix Mendelssohn die Rede gewesen; «sie haben immer vom Grossvater gesprochen, obwohl sie ihn nicht mehr gekannt hatten. Er war sehr präsent in der Familie, nicht nur als Berühmtheit».

Dreizehn der Aquarelle, die im Ried aufbewahrt wurden, zeigen Schweizer Landschaften – den Rheinfall, Luzern, das Dorf Unterseen bei Interlaken. Felix Mendelssohn schuf sie 1847 auf seiner letzten Reise, auf der er kurz nach dem plötzlichen Tod seiner geliebten Schwester Fanny – und nur wenige Monate vor seinem eigenen – noch einmal jene Ruhe suchte, die ihm die Landschaft des Berner Oberlands offenbar vermittelte.

Die «Farbenmischungen» des Bodensees

Es sind relativ kleinformatige, sehr detailgetreue und stimmungsvolle Aquarelle, die neben dem Talent auch die Schulung verraten, die der Komponist als Knabe erhalten hatte. Schon als 13-Jährigen hatten ihn die «Halbtinten» und «Farbenmischungen» des Bodensees fasziniert; nun suchte und fand er selber die richtigen Nuancen, um die Lichtverhältnisse oder das Wasser zu gestalten. «Kein Künstler hätte sich ihrer zu schämen brauchen», beurteilte einst sein Schwager, der Kunstmaler Wilhelm Hensel, diese Aquarelle.

Was ist in der Familie geblieben von den vielen Talenten des Vorfahren? Thomas Wach lacht. Hobbymässig sei da und dort noch etwas aufgetaucht: Albrecht Mendelssohn, ein Cousin seines Vaters, sei ein begabter Musiker gewesen (aber hauptberuflich wie so viele in der Familie Jurist). Und Tante Marie habe schöne Aquarelle gemalt. Aber sein Vater habe jeweils gesagt: Wenn es in einer Familie in drei Generationen gleich zwei Genies gegeben habe – eben Felix Mendelssohn und dessen Grossvater, den Philosophen Moses Mendelssohn – dann brauche der Geist ein wenig Zeit, um sich zu erholen. Er selbst, sagt Thomas Wach, verstehe sich als «Teil dieser Ruhephase».

Wobei Ruhe in seinem Fall ein relativer Begriff ist. Trotz Gipsfuss springt er immer wieder auf, um ein Buch oder eine Dokumentation aus dem Gestell zu holen. Seit zehn, fünfzehn Jahren beschäftigt er sich intensiv mit dem Erbe seines Urgrossvaters, und 1997 hat er einen Verein gegründet, der heute «Mendelssohn-Gesellschaft Schweiz in Memoriam Lili Wach Mendelssohn» heisst, rund 140 Mitglieder hat und unter anderem Konzerte im Ried-Haus organisiert. Wach hat mit dafür gesorgt, dass der Nachlass, den seine Tante Marie ins Berner Oberland gerettet hatte, in Institutionen in Berlin und Oxford der Forschung zugänglich gemacht wurde. Und er ist in Kontakt mit Interpreten, von lokalen Grössen bis hin zum Dirigenten Kurt Masur, die sich für die Musik Mendelssohns einsetzen.

Jodler brauchen Echos

Musikalisch hat Mendelssohn wenig aus der Schweiz mitgenommen, das Land scheint ihn eher optisch als akustisch inspiriert zu haben. «Musik gemacht habe ich in der ganzen Schweiz kein bischen», schrieb er 1842, «aber gezeichnet den ganzen Tag, bis mir die Finger und die Augen weh taten.» Immerhin hat er sich auf seiner ersten Reise über Volkslieder und Jodler gewundert: «Es ist nicht zu leugnen, dass diese Art von Gesang in der Nähe oder im Zimmer rauh und unangenehm klingt,» schrieb er damals; anders sei es, «wenn Echos darauf antworten oder sich damit vermischen.» Anklänge an diese Musik finden sich in seinen Jugendsinfonien Nr. 9 und 11. Später soll er auch selbst gejodelt haben. Aber ein schweizerisches Pendant zur «Schottischen» sucht man vergeblich in seinem «uvre».

So ist es die «Schottische», die Thomas Wach als seine Lieblingssinfonie nennt, auch der «Elias» steht ganz oben auf seiner Favoritenliste. Und er ärgert sich darüber, dass der Musik seines Urgrossvaters oft die «Tiefe» abgesprochen werde: «Kann die denn nur erreichen, wer materiell gelitten hat?»

Auf dem Weg zur Tür weist er dann noch auf ein weiteres Mendelssohn-Stück, das etwas fremd wirkt zwischen der indischen Kunst: Über einem Mauerbogen hängt eine vergrösserte Kopie jener Zeichnung, die der Komponist einst von Wengen aus von der Jungfrau gemacht hat. Heute, so erzählt Thomas Wach, gebe es an der Stelle, an der sein Urgrossvater gezeichnet haben muss, ein Denkmal, «auf einem Wanderweg, ziemlich steil übrigens». Anders als andere grosse Komponisten sei Mendelssohn «schlecht zu verkaufen», bedauert Wach, «die Erinnerungen bleiben nicht von selbst». Er will dazu beitragen, dass sie nicht verschwinden. (Tages-Anzeiger)

Erstellt: 02.02.2009, 22:16 Uhr