An dieser Stelle möchte ich das folgende Buch von Nicholas Carr empfehlen: "Wer bin ich, wenn ich online bin ... und was macht mein Gehirn solange? Wie das Internet unser Denken verändert".

Dieses Buch kann (und will) man von vorne bis hinten durchlesen, ohne ein einziges Wort zu überfliegen, tief eintauchend in die Gedanken und Recherchen des Autoren. (Ich hab's in der deutschen Übersetzung gelesen, weil es ein spontaner Lustkauf war. Man muss ja nicht unbedingt immer das englischsprachige Original bevorzugen, und die Übersetzung ist auch gut gelungen.) In dem Buch geht es u.a. darum, wie wir Texte online lesen. Nämlich ganz anders.

Mir fiel das gerade ein (obwohl ich gerade zwei andere Bücher ausgelesen habe, und die Erinnerung an den Carr schon wieder etwas zurückliegt und verblasst ist), weil ich mich kürzlich selbst beobachtet hatte, wie ich einen Text online gelesen habe, konkret Kritik einer Wertepositionskritik von Pavel Mayer. Dieser erschien vor einigen Tagen und erregte im Dauerregen der individualisierten Nachrichtenströme aus Twitter, Facebook und Google Reader meine Aufmerksamkeit.

Als erstes fiel mir ein Satz vom unteren Ende der ersten Bildschirmseite ins Auge: "Absolute Widerspruchsfreiheit ist in hinreichend komplexen axiomatischen Systemen ebenfalls prinzipiell nicht möglich, geschweige denn, in einem menschlichen Wertesystem."

Wie das beim Online-Lesen so ist (eigentlich liest man ja nicht, sondern selektiert nur nach Relevanz, um Texte in mehr oder weniger lesenswert zu unterteilen und dann anschließend so oder so doch nicht zu lesen), habe ich schon nach diesem einen Absatz (der nur aus diesem einen Satz bestand) mein Urteil begonnen: Der Autor ist ein Angeber. Offenbar geht es um Wertesysteme (ich wusste, dass er sich mit diesen Themen innerhalb der Piratenpartei engagiert) und um eine Replik auf eine Kritik an einer seiner Positionen -- und er meinte wohl (so mein Soforturteil) durch ein Anbringen des Begriffs "axiomatisches System" einen Bildungsvorsprung vortäuschen zu können.

Kleiner Einschub: Was axiomatische Systeme angeht, ist sein Satz auch falsch. Richtig heißen würde es in etwa so: Vollständige "hinreichend komplexe axiomatische Systeme" können nicht innerhalb ihrer selbst als widerspruchsfrei bewiesen werden. Diese drei hervorgehobenen Elemente (die in Mayers Verkürzung fehlen) sind jedenfalls die Kernaussagen eines Unvollständigkeitssatzes von Kurt Gödel, auf den er vermutlich anspielt. (Ich erinnere mich daran sehr genau, obwohl mein diesbezügliches Studium ein viertel Jahrhundert zurückliegt.) Abgesehen davon sind menschliche Wertesysteme nicht axiomatisch. (Was Mayer zwar auch nicht behauptet hat, aber was soll dann der Vergleich?)

Dennoch habe ich weitergelesen. Was beim Online-Lesen so geht: Ich habe heruntergescrollt (wie gesagt: online liest man ja nicht wirklich) und bin mit dem Auge bei einem weiteren Absatz hängengeblieben, den ich hier ebenfalls komplett zitieren möchte.

Ich möchte an dieser Stelle auch noch mal die Ansichten von Bjarne Stroustrup ins Feld führen, der nicht primär als Namensgeber für unsere Crew fungiert, weil er die Programmiersprache C++ erfunden hat, sondern weil er auch als studierter Philosoph eine der meinen eng verwandte Sicht auf die Philosophie vertritt:

  • Respekt vor dem Individuum (Kierkegaard) vor grandiosen Theorien oder abstrakter Sorge für die gesamte Menschheit (Hegel, Marx)
  • Empirie vor Ideologie (Aristoteles vor Plato, Hume vor Descartes)
  • Alltagserfahrung und kleine Sorgen des Einzelnen vor Weltformeln
  • Achtung für Gruppen ohne Achtung für ihre Mitglieder ist keine Achtung
  • Die schlimmsten Katastrophen werden durch Idealisten verursacht, die es "nur gut meinen"
  • Ideologen tendieren dazu, sich Erfahrungen zu verschliessen, die nicht ins Schema passen
  • Ideologien verursachen Leid bei Unschuldigen und Enttäuschung und Korruption unter den Anhängern
  • Entscheidungen sollten nicht auf Theorie und Logik allein basieren

Ich wusste sofort, wo ich das schon einmal gelesen hatte. Es war 1994 in einem Buch von ebendiesem Bjarne Stroustrup ("The Design and Evolution of C++"):

"Among the long-standing schools of thought, I feel most at home with the empiricists rather than with the idealists -- the mysticists I just can't appreciate. That is, I tend to prefer Aristotle to Plato, Hume to Descartes, and shake my head sadly over Pascal. I find comprehensive 'systems' like those of Plato and Kant fascinating, yet fundamentally unsatisfying in that they appear to me dangerously remote from everyday experiences and the essential peculiarities of individuals. I find Kierkegaard's almost fanatical concern for the individual and keen psychological insights much more appealing than the grandiose schemes and concern for humanity in the abstract of Hegel and Marx. Respect for groups that doesn't include respect for individuals of those groups isn't respect at all. Many C++ design decisions have their root in my disklike for forcing people to do things in some particular way. In history, some of the worse disasters have been caused by idealists trying to force people into 'doing what is good for them'. Such idealism not only leads to suffering among it's innovent victims, but also to delusion and corruption of the idealists applying the force. I also find idealists prone to ignore experience and experiment that inconveniently clashes with dogma or theory."

Natürlich habe ich gleich zum Buch gegriffen, um zu überprüfen, ob Mayer Stroustrup auch richtig wiedergibt. Jetzt gerade in der Hand habe ich aber ein anderes Buch aus dem Archiv, nämlich einen 1993 gelesenen Jostein Gaarder: "Sofies Welt -- Roman über die Geschichte der Philosopie" (in einer Übersetzung aus dem Norwegischen). Darin kommen diese Philosophen auch alle vor. Auch der eingangs empfohlene Carr greift tief ins Historische -- und verbindet es mit der Realität des Jahres 2010, in dem man auf dem Handy (mit Apps wie bei mir Gravity) oder bei der Bildschirmarbeit (mit Apps wie bei mir Tweetdeck) dem oben erwähnten personalisierten Info-Dauerregen permanent ausgesetzt ist und dadurch immer wieder in die Blogosphäre (in diesem Fall zu Mayers Text) driftet, in die ja auch dieses Geschreibsel hier (mein eigenes Gesülze) publiziert wird. Nur wird das eben nie einer lesen. Höchstens überfliegen.

So wie auch ich dann noch ein bisschen weiter Mayers "Kritik einer Wertepositionskritik" überflogen habe. Er diskutiert dann noch seinen Satz "Die Würde des Menschen gründet sich in seiner Fähigkeit, sein Wesen und Wollen selbst zu bestimmen." und bringt Erklärungen wie "Unser Wesen selbst zu bestimmen bedeutet, dass wir zwar keinen Einfluss darauf haben, als wer wir geboren werden, aber sehr wohl darauf, als wer wir sterben. Unser Wollen selbst zu bestimmen bedeutet, dass wir unsere Ziele im Leben selbst setzen können. Beides hebt uns von beispielsweise von Computern und Tieren ab. Ein Kamel wird als Kamel geboren und stirbt als Kamel. Ein Computer kann nur die Programme ausführen, die ihm eingespeist werden. Ein Mensch dagegen hat die Freiheit, sich sein “Programm” selbst zu wählen oder zu schreiben."

An dieser Stelle habe ich aufgehört, mich weiter mit dem Text zu befassen, denn bekanntermaßen ist die Freiheit des Denkens und Wollens für mich kein Alleinstellungsmerkmal des Menschen. Es ist ein Strukturmerkmal bestimmter Prozesse, die überall vorkommen. Genauer erklärt hatte ich das schon in meinem Blogeintrag Holons ab dem Abschnitt, der mit "So weit so gut. Was halte ich selber nun von alledem?" beginnt. Ich will das hier nicht wiederholen.

Aber was wollte ich hier heute denn nun eigentlich sagen? Nun, ich wollte einfach mal die Beobachtung aufschreiben, wie sehr ich mit Schnell- und Vorurteilen um mich werfe. Meine Beurteilung des betrachteten Textes von Pavel Mayer (= alles entweder Murks oder geklaut) basiert auf einem Nichtlesen meinerseits von ebenjenem Text. Und ich bin offenbar nicht allein. Wie oft findet man auf Kommentare an Artikeln im Internet zu recht die Reaktion des Autors "Hast Du meinen Text überhaupt gelesen?". Zu oft! Wir lesen alle nicht mehr. Jedenfalls nicht online. Gerade deshalb empfehle ich so sehr das eingangs erwähnte Buch von Nicholas Carr zu ebendiesem Thema. Diese Lektüre lohnt sich!