Als das Amt ihr Kind holen wollte, floh Christiane F. nach Amsterdam

Das Protokoll ihres Absturzes, der mit einer neuen Liebe begann und in der Junkie-Szene am Kotti endet

Birgit Bürkner

Christiane F. auf einem Foto von 2006


Ihr Leben als Christiane F. begann mit abgestandenem Geruch von Urin auf den Kacheln dreckiger Bahnhofsklos, orientierungslosem Schlingern durch eine Welt ohne Perspektive, der Gier nach frischem Stoff, Leere im Kopf.

Das Nichts, es hat Christiane jetzt wieder. Das Drogenmädchen aus dem Buch „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ hat sich viel bewegt in den vergangenen 30 Jahren, aber ist scheinbar keinen Schritt vorangekommen. Heute steht sie mit 46 Jahren wieder da, wo alles angefangen hat. Auf der Straße zwischen Fixern und Obdachlosen, übernachtet nach Aussage von Freunden mal hier mal da. Süchtig, kaputt, hilflos.

Sie war reich, verkehrte in der High Society. Sie hatte Chancen. Viele hat sie zerstört. Auch ihre größte. Ein normales glückliches Leben mit einer kleinen Familie am Rande von Berlin. Ihren Sohn Elias* (11) hat ihr das Jugendamt weggenommen, weil sie wieder rückfällig geworden ist . Eine Rückkehr zur Mutter sei derzeit ausgeschlossen, so eine Sprecherin des Landratsamtes Potsdam-Mittelmark.

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Christiane F. – das Protokoll ihres Absturzes. Er begann im Frühjahr, als sie Peter L.* (37) kennenlernte, einen per Haftbefehl gesuchten Betrüger. „Wir haben uns sehr schnell und heftig ineinander verliebt“, erzählt er im B.Z.-Interview. Sie entwickelten den Plan, auszuwandern. „Christiane fühlte sich vom BKA verfolgt, Spätfolgen ihres Drogenkonsums. Sie sagte, alle anderen Mieter im Haus seien Spione. Wir durften nicht laut reden in ihrer Wohnung. Statt zu sprechen, mussten wir uns im Wohnzimmer in ein Zelt setzen und uns Briefe schreiben“, erzählt er. „Ich dachte, im Ausland würde vieles besser.“

Christiane F. meldete ihren Sohn in der Schule ab, ohne eine neue Adresse zu hinterlassen. Die Schule informierte das Jugendamt. Das nahm Elias in Obhut. Christiane entführte kurze Zeit später ihren Sohn aus dem Landratsamt. Sie flohen nach Amsterdam, mieteten eine Wohnung. „In Amsterdam entglitt Christiane“, so Peter L.. „Sie lag nur noch im Bett, wusch sich wochenlang nicht mehr, trank den ganzen Tag und kiffte.“ Um Elias soll sie sich kaum noch gekümmert haben. Peter L.: „Er spielte nur noch Playstation, aß Chips, trank Cola.“

„Christiane wurde immer schwieriger“

Die wenigen Male die Christiane F. das Haus verließ, soll sie sich mit der Polizei angelegt haben. Sie wurden aus der Wohnung geworfen, zogen auf einen Zeltplatz. „Christiane wurde immer schwieriger. Und trotzdem liebte ich sie, wollte um unsere Beziehung kämpfen. Ich redete mir ein, dass ich ihr helfen kann. Im tiefsten Herzen ist Christiane der liebenswerteste Mensch, den ich je kennenlernen durfte.“
Christianes Mutter Elisabeth T.* stellt die Amsterdam-Zeit etwas anders dar. „Christiane hatte Angst vor diesem Mann“, sagt sie. „Der wollte nur an ihr Geld. Deswegen reiste sie mit Elias zurück.“

Auch Horst Rieck, Co-Autor des Buches „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“, erklärte gegenüber „Spiegel Online“, dass Christiane F. von ihrem Begleiter in Amsterdam nicht gut behandelt, unter Umständen sogar betrogen worden sein soll.

Auf dem Weg zurück nach Deutschland soll sie dann im Zug Polizisten angegriffen haben. Peter L: „Sie rief: Seht her, ich bin Christiane F.. Und das ist mein Sohn.“ Da sei sie verhaftet worden, Elias wurde dem Jugendamt übergeben.

Der Junge lebt jetzt in einer Wohngruppe in Brandenburg, so ein Mitarbeiter des Jugendamts.
Christiane F. soll sich überwiegend im Umfeld des Kottbusser Tores aufhalten. Ihre Mutter hat den Kontakt zu ihr verloren. „Ich kann ihr nicht mehr helfen“, sagt Elisabeth T. „Soll ich wieder loslaufen und sie suchen?“

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Mittags am Kotti. Ich, die B.Z.-Reporterin, begebe mich auf Spurensuche. Eine Gruppe aus Trinkern und Junkies steht am U-Bahnausgang, die Blicke vernebelt. Ein Mann mit schwarzem Vollbart fragt: „Christiane? Ja, die ist heute Morgen hier gewesen.“ Wo sie jetzt ist? „Keine Ahnung!“ Um die Ecke in der Adalbertstraße wohnt eine Freundin. Sie schimpft: „Ich fand die Amsterdam-Idee von Anfang an idiotisch.“ Christiane hätte sie nach ihrer Rückkehr einmal besucht. „Da war sie breit.“ Seitdem hätte sie sie nicht mehr gesehen. Kaum Anhaltspunkte. Ein Bekannter berichtet, sie soll jetzt bei ein paar Typen wohnen.

Der Verlust ihres Sohnes, wie tief lässt er sie fallen? Im letzten B.Z.-Interview 2005 hatte sie gesagt. „Elias gibt mir Mut und Hoffnung. „Ich weiß nicht, ob ich ohne ihn noch am Leben wäre.“ Sie klammerte sich an ihn. Und Elias liebt sie nach Aussage von Christianes Mutter bedingungslos.

Diese Stabilität aber hat sich vorerst in Luft aufgelöst. „Soweit ich das in den vergangenen Jahren immer mal wieder verfolgen konnte, ist sie sehr verlässlich, sorgsam und liebevoll mit ihrem Sohn umgegangen. Wenn man das Kind so sieht und nichts weiß, dann hält man ihn für einen ganz normalen Jungen“, so Horst Rieck zu „Spiegel-Online.

Der Zustand der Zufriedenheit, nie war er lange von Dauer. Immer lebte sie in Extremen, pendelte zwischen den Polen. Getrieben von Rastlosigkeit und einer inneren Einsamkeit, war sie auf der Suche nach einer unklaren Art von Erfüllung. Das Schicksal war grausam, aber oft schützte sie entstandenes Glück auch zu wenig. Die Möglichkeiten, die sich ihr boten, ließ sie verstreichen.

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Rückblick: Nach Veröffentlichung ihres Buches 1979, riss sie von ihrer Tante in Schleswig-Holstein aus, brach ihre Buchhändler-Lehre ab. Sie ging nach Hamburg, lebte als Punkerin mit Alexander Hacke von den „Einstürzenden Neubauten“ zusammen, tourte mit der Band durch die USA, feierte mit Nina Hagen in Hollywood und unterschrieb in New York einen Plattenvertrag. Sie spielte die Hauptrolle in einem Underground-Film. Als Hacke sie verließ, betäubte sie ihren Schmerz mit Heroin.

Zukunftspläne? Langweilig!

Aber sie bekam eine neue Chance. Eine Züricher Verlegerfamilie holte sie zu sich. In dem Haus ging die Kultur-Elite Europas ein und aus: Filmregisseur Federico Fellini, Friedrich Dürrenmatt, Loriot. Sie bewunderten ihre Intelligenz, ihre Vitalität, schmiedeten Zukunftspläne für Christiane. Doch die fand alles langweilig, stahl sich immer öfter hinaus in die Züricher Drogenszene. Nach einigen Monaten ging sie zurück nach Berlin, wurde wegen Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz verhaftet, landete für zehn Monate im Knast.

Nach ihrer Haft reiste sie nach Griechenland, lernte den heroinsüchtigen Hippie Panagiotis kennen. Sechs Jahre lebten sie zusammen auf verschiedenen griechischen Inseln, dann raubte er einem Passanten die Tasche und musste ins Gefängnis. Die Beziehung zerbrach. Zurück in Berlin wurde sie von einem zehn Jahre jüngeren Junkie, den sie an der Methadon-Ausgabe kennengelernt hatte, schwanger.

Das Kind, endlich ein Halt, endlich eine richtige Verantwortung. Doch wieder machte sie einen Fehler. Gab ihre Altbauwohnung im Norden Berlins auf, wählte ein Extrem. Mit ihrem Sohn zog sie in eine Reihenhaussiedlung am Rande von Teltow. Da musste sie scheitern.

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Nie wollte sie sich von Therapeuten behandeln lassen, die Wurzeln ihrer Probleme freilegen. In ihren Kopf brauche niemand reinzuschauen, sie sei stark genug. Ihre größte Fehleinschätzung. Christiane F. braucht dringend professionelle Hilfe.